Stabile Gesellschaft - stabile Geschlechter - stabiles Heranwachsen

Familie Je instabiler die Gesellschaft, desto größer die Rolle der Familie für Heranwachsende. Nicht immer zu deren Vorteil.

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https://www.freitag.de/autoren/mohamed-amjahid/rechte-muetter-machen-mobil-gegen-queers-und-transgender

Ich habe keine Kinder, frage mich derzeit aber oft, inwiefern aktuelle, gesellschaftspolitische Debatten um Geschlechtsspezifik das Selbstverständnis Heranwachsender im familiären Kontext beeinflussen. Nachdem Kinder bisweilen ja aus sich heraus, ohne äussere Beeinflussung, verschiedene Identitäten anzunehmen versuchen, und dabei keinen Unterschied zwischen Genus und Ethnie machen, muss da wohl nicht korrigiert werden. Wenngleich sowohl aus der konservativen Richtung, als auch der woken, offengeschlechtlich Eingestellten, ganz entschieden gemaßregelt wird. Erstere mag dies in Hoffnung auf das Erreichen des soviel diskutierten "toxisch-Maskulinen" tun, während Zweitere das Abbilden von Ethnien untersagt, das Nachahmen von Geschlechtern indes, selbst, wenn es sich dabei um übersexualisierte Abbilder handelt, zutiefst feiert. Worin liegt da eigentlich der Unterschied? Warum kann ein Erwachsener Mensch sagen, dass ein Kind kein Apachenhäuptling sein darf, wohl aber eine Dragqueen? Warum wird bei Ersterem eine herablassende Haltung unterstellt, während Zweitere gefeiert wird?

Ich fühle mich gerade an meinen Eindruck der frühen 2000-er erinnert, der sich insofern ausdrückte, als dass ich die mediale Überzeichnung homosexueller Menschen der Öffentlichkeit, wie Hape Kerkeling, Bastian Pastewka alias Brisko Schneider oder Dirk Bach, profitabler Beweggründe der Medienbranche unterstellt sah und weniger wahrhaftiger Akzeptanz durch unsere Menschen. Oder anders: Als Ulk geht das schon durch, wenn es sich verkauft. Aber wehe, der maskuline Fußballer ist auf einmal schwul! Aber zurück zum Gender-beschwerten Kinderfasching! Apachenhäuptlings Erzeugerin hat derart unsensibles Verhalten einst, glaube ich, den Parteiausschluss beschert. Eine Mutter und linke Politikerin kann eben unmöglich ihren Zögling als Ureinwohner des Nordamerikanischen Kontinents in den Kindergarten gehen lassen und das dann auch noch den Genossinnen erzählen. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung bettet sich die, allseits um Aufgeschlossenheit und geschlechtsspezifische Sprache, bemühte Gruppe nun im Gegenteil von Offenheit und Lebensbejahung. Sie fordert jedoch auf der anderen Seite größtmögliche Akzeptanz gegenüber allem, was sich die cosmopolitisch-einbettende Großstadt-Elite so einfallen lässt und ersucht den Gesetzgeber, entsprechende Inhalte zu verordnen und Fehlverhalten zu ahnden.

Was aber, wenn die Gesellschaft dazu noch nicht bereit ist, wenn der Rückhalt schlichtweg fehlt? Es sei daran erinnert, dass auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik bis 1994 homosexuelle Handlungen zwischen Männern per § 175 strafbar waren. In der DDR, weil wir ja immer unsere gesamte Nation betrachten, wurde davon wenigstens bereits 1968 Abstand genommen, wenngleich sich dort eine gesellschaftlich protegierende Nische weitaus schwieriger herausbilden konnte. In den vergangen 29 Jahren seit Wegfall des 175-er haben sich Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Einbettung gleichgeschlechtlicher Liebe doch erheblich verbessert. Nur, um gesellschaftliche Akzeptanz zu fordern muss die Gesellschaft sich in komfortablen Schwingungen befinden und ein gewisses, einvernehmliches Selbstverständnis leben. Unbestritten, dass ein Solches in den Innenstadtbezirken Berlins, Hamburgs oder Münchens auch existiert. Aber die Bundesrepublik hat nun einmal auch andere Momentaufnahmen zu bieten, als es das gemeine cosmopolitisch-vegane-Traveller-Bild so vermittelt. Da gibt es andernortens auch viel Unsicherheit, Zerissenheit und Unverständnis gegenüber zeitgenössischen Debatten.

Worin ziehen sich Menschen generell zurück, wenn soziale Kälte ebenso zermürbt, wie die Kompliziertheit des Aussen, während im Innen der Hass aufsteigt? Alkohol! Macht der doch in Maßen milde. Was noch? Ersponnene ethische Überlegenheit und Organisation innerhalb extremer Parteien. Und sonst? Natürlich die Klassiker Familie und Religion, sofern man denn eine der beiden, oder besser oder schlimmer noch, über beide verfügt. Dass Familie heute auch - zum Glück - anders funktioniert als "Vater, Mutter, Kind" und bisweilen mindestens so gut und oft besser, steht ausser Frage. Warum mit einem trinkenden, prügelnden Partner zusammenleben, wenn er, sie, es die Familie tyrannisiert? Warum auf Gedeih und Verderb verheiratet bleiben, wenn man sich hasst? Und was daran soll so gut sein fürs Kind? Einfach die kommode Situation, den Abkömmling in so vertraut katastrophalen Zuständen zu belassen? Warum ist ein Kind nicht generell besser in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen aufgehoben, als nur der Familie ausgeliefert? Wie furchtbar allein muss ein Kind sich fühlen, das elterlicher Ideologie, welche das auch immer sei, einfach ausgeliefert ist, keine Alternative hat? Und reicht das Zeugen eines neuen Menschen, das Stillen und Wechseln dessen Windeln denn aus, um sich auf das Recht der Unterdrückung zu berufen? In der letzten Frage sehe ich übrigens die größte und aktuellste Gefahr fürs Kindeswohl unserer Tage und derer Zukünftigen noch mehr!

Das gesellschaftliche Selbstverständnis weicht immer weiter zurück, oder wird durch zunehmend konservative, religiöse und patri- wie auch matriarchale Strukturen verdrängt. In den USA seit jeher durch puritanisches Erbe verankert, aber neuerdings auch in Polen, Italien oder Großbritannien und selbst im einst so gesellschaftsfixiertem Frankreich bemüht sich eine, rücksichtslos auf Familie, nur die Familie, besinnende Bewegung, die Konzentration sämtlicher kindlicher Aktivitäten, wie Homeschooling, Sport, musische und religiöse Belange auf den Ort familiären Lebens zu begrenzen. Gibt das die räumliche Situation nicht her, ziehen Eltern den sozialen Rahmen zumindest innerhalb exklusiver Strukturen Gleichgesinnter. Trainer, Psychologen und Geistliche rekrutiert man dann aus dieser oder jener elitären Bruderschaft und die Freunde werden ebenfalls seitens der Eltern ausgesucht. So wächst eine Generation sozial entwurzelter Egoisten heran, deren einzige Verbindung zur Aussenwelt die Abgabe ihres Selbstbildes über Instagram ist. In diesem Punkt können sich poor kids gegenüber richen wenigstens einmal im Vorteil wähnen, verfügen sie doch über wesentlich fundiertere ungeplante, soziale Erfahrungen, die das Unbehütetsein so mit sich bringt.

Doch zurück zum 'wir'. Um ein solches zu erreichen, müssen wir uns das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge als Grundlage zurückholen. Dann erst ist Zeit und Muße für das Ansinnen auf Geschlechtsänderung nach eigenem Ermessen und Dragqueen-Vorlesestunden im Kindergarten. Queere Lebensart ist nicht nur bunt und lustig, sie ist auch von seelischer Zerrissenheit extremen Höhen, aber auch Tiefen geprägt. Einem gefestigten Charakter kann das nichts anhaben, und in einer offenen Gesellschaft findet ein heranwachsender Mensch auch selbst seinen Weg dahin, wenn er es denn will und darf, sich also frei und losgelöst von familiärer Doktrin in der Gesellschafft bewegen kann. Aber muss er, sie, es bereits im Kindesalter damit überfordert werden? Das heißt nicht, dass ausschließlich beschränkt auf das alte Geschlechterbild aufgewachsen werden muss, neinnein! Anspruchsvolle, queere Themen, wie der gutgemeinte, sonntägliche Besuch auf einem Straßenfest mit hochgradig sexuellen Inhalten werden mit nur fünf Jahren Lebenserfahrung womöglich anders verarbeitet als mit fünfzehn Jahren auf Mutter Erden. Mein Apell an die queere Gemeinschaft: Schätzen wir uns glücklich, dass gleichgeschlechtlich geliebt, geheiratet und adoptiert werden kann. Je schriller die Forderungen und je kürzer ihre Intervalle, desto mehr Stoff jedoch liefern sie fundamentalistischen Gegnern unkonventioneller Lebensentwürfe oder -bedürfnisse.

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