Es gibt diese Szene in Jim Jarmuschs Film Only Lovers Left Alive, in der Eve (Tilda Swinton) ihren Koffer für die Reise nach Tanger packt. Ganz Vampirin hat sie einen Nachtflug gebucht, auf den Namen Fibonacci, und sie nimmt nur ihren wertvollsten Besitz mit: Bücher. Infinite Jest, Don Quixote, einen Basquiat-Bildband, Bücher auf Arabisch, auf Chinesisch. Bevor eines davon in den Alukoffer wandert, streicht Eve mit den Fingern über die Seiten, als lese sie Braille. Im Hintergrund sphärische Gitarrensounds.
Nur unwesentlich profaner packe auch ich für die Vortragsreise, die mich und meine Kollegin, die Kritikerin und Lektorin Senta Wagner, im Auftrag des österreichischen Büchereiverbandes diesen Herbst durch die neun österreichischen Bundesländer führt – um Bibliothekar*innen eine große Auswahl neu erschienener Bücher vorzustellen, die unserer Einschätzung nach unbedingt in den Bestand gehören. Das ist Teil einer jährlichen Fortbildung, organisiert vom Büchereiverband Österreichs. Ein paar Hits wandern in den Koffer (Plastik statt Alu), alles, was so auf den Long- und Shortlists der großen Preise steht, und dann ein paar ausgewählte Entdeckungen. Wir achten darauf, dass wir ein breites Spektrum abdecken, uns auch bei kleinen Verlagen umsehen und Autor*innen von allen Kontinenten vorstellen. Bibliodiversität nennt man das wohl.
Digital ist auch nur anders
Was in den Büchereien gut ankommen wird, ist von Standort zu Standort verschieden, aber die Bibliothekar*innen kennen ihr Publikum erstaunlich gut und wissen ganz genau, mit welchen Titeln sie auch wirklich punkten können. In Feldkirch erfahren wir, dass Lyrik schlecht läuft in Büchereien und deshalb kaum Neues angeschafft wird – das seien eben Bücher, die man sich grundsätzlich eher kaufe als ausleihe. Ein paar Klassiker stünden in den Regalen, alles andere werde viel zu wenig nachgefragt. In Innsbruck ist man dagegen enttäuscht, dass wir die Gedichtbände von Alice Oswald, Anja Golob und Özlem Özgül Dündar nicht als Anschauungsmaterial dabeihaben. Ein wenig Überraschung ist immer im Spiel, und neunmal den gleichen Vortrag zu halten, ist nicht halb so fad, wie es sich anhört. Wahrscheinlich bekommen wir einen realistischen Eindruck davon, was es heißt, Vertreterin zu sein. Wollten wir nie werden, Spaß macht es in diesem Rahmen trotzdem. Bei Helen Oyeyemis Kurzgeschichten (Was du nicht hast, das brauchst du nicht) laufe ich zur Hochform auf – wenn ich vom Siamesischen Kampffisch namens Boudicca erzähle, ist Peak Leidenschaft erreicht. Senta preist Davit Gabunias Farben der Nacht an, als müsste man den Roman dringend noch lesen, wenn morgen die Welt explodierte. Und natürlich bin ich auch nicht davor gefeit, einige Bücher, die sie vorstellt, sofort selbst lesen zu wollen. Am Ende der Reise tauschen wir feierlich Rezensionsexemplare aus.
Digitale Medien haben natürlich längst in den Bibliotheken Einzug gehalten und werden in den letzten Jahren immer häufiger ausgeliehen. Aber ob und inwiefern sich dadurch die Bibliothekslandschaft insgesamt verändert, lässt sich noch nicht absehen – in erster Linie verändern die technischen Neuerungen der letzten Jahre und Jahrzehnte die tägliche Bibliotheksarbeit: zum Beispiel durch Online-Kataloge oder Selbstverbuchungsgeräte. In öffentlichen Büchereien werden soziale Unterschiede sanft ausgeglichen, hier kostet Lesen so gut wie nichts und der Bildungsauftrag wird ernst genommen. Eine Lesebiografie beginnt meist mit stapelweise ausgeliehen Kinderbüchern aus der Stadtteilbücherei, besonders Autor*innen treten gern als leidenschaftliche Verfechter solch prägender Bibliothekserfahrungen auf. Hier in Wien hat zuletzt die Schriftstellerin Teresa Präauer bei der Eröffnung des Festivals „Österreich liest“ mit einer glühenden Festrede eine Lanze für den Freihandbestand gebrochen. Und damit für die Bücher, die einem kein Algorithmus in die Hände spielt, sondern der Zufall – Überraschungsfunde eben, wie sie nur ein Bibliotheksregal zutage fördern kann. Ich wohne fünf Fahrradminuten entfernt von der paradiesischen Wiener Hauptbücherei mit ihren über vierhunderttausend Medien. Von diesem Überfluss profitiere ich gern. Über das Büchereiwesen wusste ich bis vor Kurzem aber so gut wie nichts.
Österreich ist in dieser Hinsicht anders organisiert als die Nachbarländer. Männliche Zuhörer bilden bei unseren Vorträgen die absolute Ausnahme, meist sitzt genau einer in den Reihen, egal ob da 20 oder 40 Leute sind – das vermittelt ein ziemlich gutes Bild von der Schräglage in den öffentlichen Büchereien. Die Statistiken vom vergangenen Jahr zeigen: Über 87 Prozent Frauen arbeiten dort. Bei den Ehrenamtlichen ist der Frauenanteil besonders hoch, aber auch bei den Hauptamtlichen kann von ausgewogenen Geschlechterverhältnissen keine Rede sein. Ähnlich sieht die Verteilung auch bei den Benutzer*innen aus, hier machen Männer gerade mal ein gutes Drittel aus. Dass die Ehrenamtlichen den Löwenanteil der Mitarbeiter*innen stellen – weit über 80 Prozent –, dürfte das größte Alleinstellungsmerkmal der österreichischen Bibliothekslandschaft sein. „Viele Ehrenamtliche haben den Wunsch, sich in den Gemeinden zu engagieren und sind zuvor selbst begeisterte Benutzer*innen der Büchereien gewesen“, sagt Judith Oliva, die beim Büchereiverband die Ausbildungen mit verantwortet. Dafür muss man auch erst mal Zeit haben: Nicht wenige Ehrenamtliche sind schon in Pension, andere jonglieren Bibliotheksarbeit, Jobs und weitere Verpflichtungen. Für die Lehrgänge haben sich viele freinehmen müssen. Rosa Weingartmann zum Beispiel arbeitet in der öffentlichen Bücherei der Gemeinde und Pfarre in Puch bei Weiz, einem Zweitausend-Einwohner-Dorf im oststeirischen Hügelland. Alle sechs Mitarbeiterinnen dort arbeiten ehrenamtlich, sie nehmen mehrmals im Jahr an Fortbildungen teil, machen gemeinsam Ausflüge zu anderen Bibliotheken. Zum Vortrag ist Weingartmann nach Graz gereist. „Gäbe es in Österreich das Ehrenamt nicht, würde innerhalb kürzester Zeit das Gesellschaftssystem zusammenbrechen“, sagt sie. Und sie denkt dabei nicht nur an das Büchereiwesen, auch wenn es um noch konkretere Lebensretter wie das Rote Kreuz und die Feuerwehr geht, verlässt sich Österreich auf Freiwillige.
Viele Büchereien, besonders auf dem Land, haben noch geringere Öffnungszeiten als die von Rosa Weitgartmann und ihren Kolleginnen. Manche haben bloß vier Stunden in der Woche auf. Dadurch variiert die Art, wie die Büchereien genutzt werden: als Kultur- und Begegnungsort oder reine Leihbücherei. Aber selbst die kleinen Büchereien mit wenigen offenen Stunden organisieren regelmäßig Veranstaltungen – und sind häufig besonders einfallsreich, wenn es darum geht, mit wenigen Mitteln viele zu erreichen.
„Wir bemühen uns, die Bücherei auch zu einem Treffpunkt und Kommunikationszentrum zu machen“, sagt auch Rosa Weingartmann. Das Engagement scheint keine Grenzen zu kennen, die Budgets schon. Endlos viele neue Bücher kann keine Bücherei anschaffen. Da kommt die von Senta Wagner und mir kuratierte Auswahl an Empfehlungen ins Spiel.
Natürlich sind die Begegnungen mit literaturbegeisterten Menschen nicht das einzig Tolle an der Tour, sondern auch die Begegnungen mit bisher unbekannten Orten in Österreich – wir sind beide aus Deutschland, leben zwar schon seit Jahren in Wien, kommen aber doch selten raus aus der Stadt. Jetzt könnten wir locker einen Reiseführer mit den, na ja, interessantesten Absteigen Österreichs herausgeben. „A little bad taste is like a nice dash of paprika“, wusste schon die große Dorothy Parker. Als ich einem vergnügungssüchtigen Berliner Freund von dem Hotel mit den goldenen Vorhängen und den Gittern vor den Fenstern erzähle, in dem wir in Salzburg eine schlaflose Nacht verbracht haben, möchte er sofort die Adresse haben. Auf den Zug- und Busfahrten sieht man mehr beeindruckende Landschaft, als ein gewöhnlicher Mensch ertragen kann. Bei der Rückkehr von den Vorträgen gibt es keinen Ort, der so großes Glück verspricht wie das eigene Bett. Wie schaffen das bloß richtige, hauptamtliche Vertreterinnen? So muss er sich anfühlen, der Tod einer Handlungsreisenden.
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