Sanfter Wahn

Buchmesse Spezial Im Altenheim mischen sich die Toten unter die Lebenden, die Grenzen der Realität fallen. Thomas Stangl schreibt darüber. Ein Gespräch
Ausgabe 11/2019

Treffpunkt ist das Jelinek im Bezirk Mariahilf. Hier sitzt vor der welken Tapete ein angenehm heterogenes Publikum, es gibt eine ordentliche Auswahl an Zeitungen und für ein Wiener Kaffeehaus ist der Kaffee exzellent. Das sind wohl gute Voraussetzungen: Bei Thomas Stangl nämlich erzählen die Räume immer mit. Sie haben eine „Persönlichkeit“, die nicht weniger komplex und plastisch ist als die seiner menschlichen Figuren. 2018 erschien Fremde Verwandtschaften, Stangls fünfter Roman im Grazer Verlag Droschl. Darin zieht es einen Wiener Architekten zu einem Kongress nach Afrika, wo er das Selbstverständliche infragestellt und sich selbst als einem Fremden begegnet. „Eine Stadt braucht Zonen des Übergangs“, heißt es im Roman, und: „Orte ohne Geschichte, ohne (in welchem Sinn auch immer) dunkle Regionen sind, wie man weiß, trostlos und leblos“.

Diese dunklen Zwischenzonen lotet Stangl auch in seiner Kurzprosa meisterhaft aus. Den Wortmeldungen-Preis erhält er für seine Erzählung Die Toten von Zimmer 105. Schauplatz ist hier ein Altenheim. Erzählt aus der Perspektive eines Zivildienstleistenden leben die Bewohner in einer imaginären Sphäre zwischen Leben und Tod.

„Differenzieren, entwerfen, experimentieren, fantasieren, konkretisieren, kritisieren, moralisieren, spinnen – literarisch ist alles möglich.“ – Der Wortmeldungen-Preis prämiert kritische Kurztexte. Die Jury befand, dass in Die Toten von Zimmer 105 die Alten „unserer Gesellschaft gewissermaßen einen Spiegel vorhalten, in dem wir sehen, wie viel ihr Schicksal mit unserer Gegenwart und Zukunft zu tun hat.“ Im für Mai angekündigten Erzählungsband Die Geschichte des Körpers wird der Text veröffentlicht.

der Freitag: Herr Stange, eine ältere Erzählung von Ihnen spielt auch in einem Altenheim. Sie haben sie mehrmals überarbeitet und 2012 in „Reisen und Gespenster“ veröffentlicht. Gibt es einen gemeinsamen Ausgangspunkt?

Thomas Stangl: Beide Erzählungen beruhen auf derselben persönlichen Erfahrung als Zivildiener in einem Altenheim. Im ersten Text ging es beinahe genauso sehr um Literatur wie um den eigentlichen – ich scheue mich zu sagen: den menschlichen Aspekt. Der zweite Text ist direkter. Es war mir lange klar, dass ich mich mit dem Thema weiter auseinander setzen werde. Ich habe den Ansatz zu dem neuen Text schon seit einigen Jahren. Gerade funktioniert das Schreiben kürzerer Sachen für mich gut und wird wichtiger als das Schreiben von Romanen.

„Die Toten von Zimmer 105“ beginnt mit dem Satz: „Ich muss so erzählen, als wäre das eine Geschichte, anekdotisch, im Präteritum, bis zu dem Punkt, wo die Geschichte zerbricht“. Was meinen Sie hier mit Geschichte?

Das Narrativ hilft, Erfahrungen und Begebenheiten in den Griff zu bekommen. Eine Geschichte ist auch eine Ordnung, über die man als Autor, als Erzählender, die Macht hat. Das erzählende Ich hat eine Souveränität. Ich benutze in dem Text mehr als sonst konventionelle Formen, aber hauptsächlich, um sie brüchig werden zu lassen, diese Souveränität wieder aufzugeben. So, wie der Zivildiener auch seine Souveränität den Patientinnen gegenüber verliert und der Erzähler die Souveränität gegenüber seinen Figuren.

Das Altenheim, das sie beschreiben, wirkt wie verschachtelt: Es gibt das Gebäude, darin die Zimmer, die zwei Patientinnen gemeinsam bewohnen. Aber in den Zimmern gibt es wiederum „Sphären“, in denen jede ganz für sich zu sein scheint.

Ja, es geht natürlich ganz zentral um die Menschen, aber man kann den Text auch als ein Ineinander verschiedener Räume auffassen: einerseits der Erzählraum, andererseits die Zimmer. Für die Patientinnen sind das – noch viel entscheidender als für jemanden, der in einer Wohnung wohnt – Lebensräume. Sie kommen ja fast nie heraus. Und dann gibt es noch die imaginären Räume der Patientinnen, die nicht mehr so ganz in der sogenannten normalen Wirklichkeit funktionieren. Diese aus Fantasien, Erinnerungen und Realitätsfetzen zusammengesetzten Räume.

Wie sehen die konkret in der Geschichte aus?

Da gibt es zum Beispiel die Frau Hönig, eine der Patientinnen. Sie identifiziert die am Gang vorbei–gehenden Personen mit Menschen, die in ihrem Leben einmal eine Rolle gespielt haben. Sie hat einen eigenen Raum in ihrem Kopf, in dem eine Art Sinn für sie entsteht, der sie leben lässt.

Das klingt recht traurig.

Man neigt von außen immer dazu zu sagen, wie furchtbar dieser Realitätsverlust ist, und das Altenheim als eine Art Hölle zu empfinden. Aber man kann‘s ja auch umgekehrt sehen: Dieser Raum, in dem die Lebenden und die Toten miteinander umgehen können und die Zeit aufgehoben ist – das hat etwas fast Utopisches.

Haben Sie das während des Zivildienstes so erlebt?

Ja, in gewisser Weise schon. Ich möchte es aber nicht verklären und nicht als Idylle schildern. Dass das seine furchtbaren Seiten hat, kommt ja auch im Text vor. Ich denke, ich wäre nie ein wirklich guter Pfleger geworden, und ich bezweifle, dass ich das über dreißig Jahre ausgehalten hätte, immer wieder Menschen sterben zu sehen und dann kommen die Nachfol‑gerinnen. Es ist ja auch gesellschaftlich symptomatisch, dass das in einen Bereich abgedrängt wird, wo man am liebsten gar nicht hinschauen will. Andererseits haben besonders todeszentrierte Gesellschaften, wie das katholische Spanien zur Zeit der Reconquista oder auch das Aztekenreich, oft etwas ziemlich Schreckliches. Vielleicht hat das Wegschieben ja auch seine positiven Seiten.

Wie haben Sie damals die Patientinnen wahrgenommen?

Ich hänge wahrscheinlich weniger als die meisten anderen Leute an einer Idee von Normalität, von funktionierendem, normalem Menschsein. Das liegt vielleicht an meiner Beschäftigung mit Literatur. Diese veränderte Wirklichkeitsauffassung der Patientinnen habe ich besser verstehen können als einige andere. Ich habe es nicht einfach als schlimm und als Verlust wahrgenommen, sondern auch das utopische Moment daran gesehen.

Besteht dieses utopische Moment auch darin, Normalität zu hinterfragen und zu schauen, wie sieht eine andere Wirklichkeit überhaupt aus?

Ja, genau. Das Interessante, das Liebenswerte, was den Kern eines Menschen ausmacht, ist nicht unbedingt das, was er tut oder wie er sich bewegt. Sondern etwas schwer Fassbares, Anderes, das vielleicht in solchen Extremverhältnissen noch deutlicher sichtbar ist als sonst.

Über die Frauen in Zimmer 105 heißt es, sie seien „sanft verrückt“.

Ja, wobei das Sympathische für mich darin besteht, dass sie wirken, als ob sie das schon immer waren. Ein Ausgangspunkt für Literatur und für das Schreiben ist für mich das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören, eine ganz unbestimmte Verrücktheit, ob sich das nun räumlich oder im Kopf abspielt.

Zur Person

Thomas Stangl, wurde 1966 in Wien geboren, wo er auch lebt. Er studierte Philosophie und Hispanistik und schloss das Studium 1991 ab. Sein erster Roman erschien 2004. Die Schriftstellerin Olga Martynova sagt: „Man kann Stangls Bücher nur als unverhofftes Glück betrachten.“

Es gibt ja diese etwas banale Auffassung, dass der Tod die „letzte Reise“ ist. Ergibt das Sinn?

Ich weiß es nicht. Das ist wahrscheinlich eine allzu tröstliche Metapher. Der Protagonist geht nach seinem Zivildienst nach Mexiko. Die Patientinnen haben vielleicht nur den Weg in ihre eigene Vergangenheit oder in ihre Fantasie. Oder eben an den Punkt, wo sich das Erzählen auflöst, etwas zerbricht, nur mehr eine wechselseitige Hilflosigkeit da ist. Ich wurde auch schon, in Bezug auf den Text, gefragt, was denn mein eigenes Verhältnis zum Tod ist. Diese Frage kann ich überhaupt nicht beantworten, weil es so ambivalent und widersprüchlich ist. Durch das Schreiben kann ich damit umgehen, weil ich die Ambivalenzen und Widersprüche aufnehmen kann. Ich könnte aber nicht auf den Punkt bringen, was der Tod ist. Oder was er für mich ist.

Sie geben keine religiösen oder spirituellen Heilsversprechen.

Mir ist es grundsätzlich wichtig, Leerstellen zu lassen, nichts zu übertünchen.

Könnte man zugespitzt sagen, es ist nicht Aufgabe der Literatur, Ambivalenzen aufzulösen – sondern eher, sie sichtbar zu machen?

Ja, ganz genau, und ich denke auch, dass gerade in den Leerstellen vielleicht doch ein Versprechen steckt. Ein rein literarisches Versprechen. Das Offenlassen, das Aushalten von Ambivalenzen – das ist das Schöne und Wichtige und Entscheidende an Literatur.

Auch wenn die Patientinnen in ihren eigenen Sphären leben, haben sie einen beinah freundschaftlichen Umgang miteinander, der sich im Lauf der Geschichte entwickelt. Auch diese Extremsituation hat also verschiedene Seiten.

Gleichzeitig ist es auch verständlich, dass zwei einander fremde Frauen, die auf engstem Raum zusammen wohnen müssen, auch Regeln der Distanz zueinander brauchen. Was das Zimmer 105 im Text, aber auch in der Wirklichkeit zu meinem Lieblingszimmer gemacht hat, war, dass da genau diese Sympathie der zwei sehr unterschiedlichen Frauen zueinander zu spüren war. Da ist die Erzählung ziemlich nah an der damaligen Realität, aber ich tu mir schwer zu sagen, was vor 25 Jahren passiert ist und was nun meine nachträgliche Projektion ist. Das kann ich nicht aufdröseln.

Ich bin auch gar nicht sicher, ob das wichtig ist.

Das Problem entsteht auch nur, wenn ich darüber spreche. Beim Schreiben ist mir klar, dass ich über die Personen des Textes schreibe, da kommt nichts durcheinander. Wenn ich im Nachhinein darüber spreche, denke ich aber natürlich auch an die wirklichen Menschen, die ich damals gekannt habe.

Aber gerade durch diesen Einstiegssatz wird man beim Lesen zumindest dazu eingeladen, sich über die Erzählperspektive Gedanken zu machen.

Bei Julio Cortázar gibt es die Idee vom Leser als Komplizen. Ich versuche, so zu schreiben, dass es nicht den souveränen Autor gibt, dem die Lesenden nur folgen. Eher will ich einen eigenen Umgang mit dem Text ermöglichen. Ich sehe das Lesen als eine Art von Weiterschreiben und Weiterdenken.

Funktioniert das auch umgekehrt, schreiben als weiterlesen? Gerade Ihr letzter Roman, „Fremde Verwandtschaften“, ist reich an literarischen und philosophischen Anspielungen, von Franz-Kafka- und Ahmadou Kourouma-Referenzen bis zu einem Mann mit Foucaultglatze, dem der Protagonist in Afrika begegnet. Manche werden offen genannt, andere nicht.

Mir geht es dabei nicht darum, meine Texte zu verrätseln oder Denksportaufgaben zu stellen. Für mich ist das Lesen immer ganz wichtig. Ich habe von vielen Kolleginnen und Kollegen gehört, die keine andere Literatur lesen wollen oder können, wenn sie schreiben. Sie wollen sich nicht ablenken oder beeinflussen lassen. In meinem Fall ist es eher umgekehrt. Ich lasse mich gern umlenken, auf neue Ideen bringen und auch gern beeinflussen. Auch das Schreiben ist ein Weiterschreiben für mich, es ist Kommunikation mit anderen Texten, anderen Büchern.

Was lesen Sie denn gerade?

Die Auslöschung von Thomas Bernhard. Ich wurde von einer Literaturzeitschrift eingeladen, etwas über Bernhard zu schreiben. Das fällt nicht ganz leicht, schlicht deshalb, weil schon so unendlich viel über ihn geschrieben wurde. Da will ich nicht bloß zwanghaft meinen eigenen Senf dazugeben, sondern etwas für mich speziell Interessantes herausfinden. Davor habe ich die Geistergeschichte von Laura Freudenthaler gelesen. Das ist recht nah an dem, was ich auch mache, auch wenn es bei Freudenthaler eine ganz andere und eigene Form hat. Ich schreibe sozusagen auch Geistergeschichten.

Bei Ihnen heißen die Geister ja Gespenster. Was macht diese Wesen aus?

Es gibt unterschiedliche Arten von Gespenstern. In Ihre Musik, dem zweiten Roman, habe ich versucht, die Erzählerin halbkörperlich werden und als Gespenst durch den Text gehen zu lassen. Sonst sind die Gespenster oft auch geschichtliche Gespenster, eine Präsenz des Vergangenen. In dem Roman Was kommt gibt es eine Vergangenheitsebene, die ich ganz bewusst im Jahr 1937 in Wien, also kurz vor der historischen Katastrophe spielen lasse.

Ist Wien also ein geeignetes Habitat für Gespenster dieser Art?

Wenn man durch eine Stadt wie Wien geht, finde ich es oft faszinierend zu sehen, wie sich allein in den Gebäuden, in den Straßenzügen die verschiedenen historischen Schichten zeigen. Die Stadt ist nicht nur, was sie jetzt ist, da ist auch ein Ineinander verschiedener Zeitschichten zu erkennen.

An welche Orte in Wien denken Sie da als erstes?

Ich habe früher in der Leopoldstadt gewohnt. Auf meinen Spaziergängen durch das früher jüdische Viertel habe ich versucht, zu sehen und in Literatur zu übersetzen, was mit diesen Räumen und in diesen Räumen passiert ist. Auch etwas zu vergegenwärtigen, was sich dieser fürchterlichen und katastrophalen Geschichte entgegensetzen lässt. Bei meiner Idee von Gespenstern geht es immer um eine Vergegenwärtigung, die auch eine Form von Widerstand gegen historische Gewalt sein kann – sagen wir mal: eine bescheidene Form von Widerstand. Bescheiden ist auch das falsche Wort. Ein Widerstand ohne große politische Illusionen.

Der Wortmeldungen-Preis hat ja eine dezidiert politische Ausrichtung. Empfinden Sie Ihr Schreiben als politisch?

Ich würde sagen: Schreiben ist für mich eine Art, mich mit der Realität auseinanderzusetzen. Das Politische ist Teil davon. Ich finde durchaus, dass Literatur den demokratischen Diskurs aufrecht erhalten kann. Der ist ja nicht nur in Österreich gefährdet, nicht einmal nur in ganz Europa, sondern weltweit. Gleichzeitig ist für mich das Wichtige an Literatur etwas, das sich so einer politischen Öffentlichkeit mit ihren Diskursen entzieht, und dem, was in den großen Feuilleton-Diskussionen relevant ist. Sie ist intimer. Es gibt diese beiden Seiten der Literatur, und es ist keine davon verzichtbar.

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