Sie liebt, er heißt Dick

Spätruhm 1997 wollte Chris Kraus’ „I Love Dick“ niemand lesen. 20 Jahre danach wird ihre Geschichte, diese Mischung aus Fiktion, Essay und Tagebuch zu einem Welterfolg
Ausgabe 06/2017

Wie gefühlt jeder Liebesroman beginnt I Love Dick mit einer Begegnung: Die erfolglose Videokünstlerin Chris, 39, trifft auf Dick und weiß sofort, das ist er. Allerdings ist Chris verheiratet mit Sylvère, der gerade einen Forschungsaufenthalt an Dicks Institut hinter sich hat. Die beiden fangen an, ihm Briefe zu schreiben, viele, abwechselnd. Dick vereint mehrere Archetypen, er ist ein Cowboy, ein kühler Intellektueller. Außerdem steht er, der Name sagt alles, für unverhohlenes sexuelles Begehren, aber auch für eine gewisse Arschlochhaftigkeit.

Dass Dick das Zweiergeflecht einer monogamen Ehe aufbricht, ist weniger wichtig. Vielmehr ermöglicht die Begegnung mit ihm Chris und Sylvère, „unser Leben in einen Text zu verwandeln“. Chris fasst Pläne, die Briefe auch in Performances und Videos zu verarbeiten. Auf knapp 300 Seiten wird man Zeuge, wie die Liebesbriefe zum Kunstprojekt werden und in einen kulturkritischen Rundumschlag auswuchern. „Durch die Liebe bringe ich mir selbst zu denken bei“, schreibt Chris. So ist die Geschichte auch nicht nur die einer Ménage-à-trois und einer Mariage-à-deux – sie wird immer mehr zum Solostück, zumal Sylvère sich irgendwann aus der Affäre zieht.

Chris und Sylvère haben vor der Begegnung mit Dick keinen Sex mehr. Darum „erhalten sie Intimität via Dekonstruktion aufrecht, d. h. sie erzählen einander alles“. Diese Offenheit schafft auch zwischen Chris und uns Lesenden Intimität – hier erzählt eine alles. Von ihrem haltlosen, oft hilflosen Begehren, von Abtreibungen, Suizidversuchen. Heute braucht man keine zwei Minuten, um Dicks vollen Namen rauszufinden. Er hat, als angesehener Kulturwissenschaftler, natürlich einen Wikipedia-Eintrag. Als das Buch in den 1990er Jahren erschien, mag seine Identität schwieriger aufzudecken gewesen sein, geschützt war sie aber nie. Sylvère Lotringer steht schon im ersten Satz mit vollem Namen, und Chris Kraus heißt auch im Buch so. Auch in ihrem Nachfolger Aliens & Anorexia (2000) ist Chris Kraus die Protagonistin. Diese Art, zu schreiben, ist radikal. Vielleicht deshalb wurde sie oft als Bekenntnisliteratur bezeichnet, als confessional. Die Autorin lehnt das ab – als patriarchale Kulturpraxis, die Frauen den Zugang zum Schreiben verwehrt, das über das eigene Erleben hinausgeht. Und genau das wiederum in einen Vorwurf verkehrt: „Wenn man etwas bekennt, hat man sich etwas zuschulden kommen lassen. Dabei ist Prosa immer persönlich – sie zeigt, wie große Ereignisse sich im Leben der Leute niederschlagen. Ich mochte immer schon Romane, die zum Realismus gezählt werden. Und ich denke, dazu gehört auch I Love Dick.“

Mangel an Integrität

In der zweiten Hälfte des Buchs ist Dick zwar noch immer Adressat, aber nicht mehr Gravitationszentrum. Chris Kraus entwickelt ihre Poetik und schreibt viel übers Schreiben, über Erzähltheorie, Kulturtheorie. Rasantes Namedropping – hier ist I Llove Dick ganz Popliteratur. Und es ist ein Versuch, einer strukturellen, verordneten weiblichen Sprachlosigkeit etwas entgegenzusetzen: „Ich habe mein Schweigen und alles Verdrängte mit dem Schweigen des gesamten weiblichen Geschlechts zusammengeführt und mit all dem, was es verdrängt.“ Obwohl er in der dritten Person erzählt ist, wirkt der Text zu Beginn tagebuchhaft, mit Datum versehen, nüchtern, unakademisch. Chris, „die keine Intellektuelle ist“, sitzt da mit zwei Kulturwissenschaftlern in einer Sushi-Bar in Pasadena und hört ihnen beim Diskutieren zu.

Ziemlich genau in der Mitte des Buchs reflektiert Chris Kraus ihre frühere Unfähigkeit, in der ersten Person zu schreiben – als Ausdruck einer Entfremdung, eines Mangels an Integrität. Sie hat es versucht und es klang, als würde da jemand ganz anderes schreiben. Diese Stimme zu finden, wird zu einem wesentlichen Instrument der Erkenntnis. Nicht nur der Selbsterkenntnis, es dient auch dazu, die kulturelle Landkarte zu begreifen, auf der sich dieses Subjekt bewegt. Diesen Prozess spiegelt auch der Roman wider: Die Rahmenhandlung wird weniger, die Briefe werden mehr und weiten sich zu ganzen Monologen in Ich-Form aus.

Die Form ist dabei konsequent hybrid – Briefe treffen auf kulturkritische Essays und feministische Theorie. „Ich glaube, unsere Geschichte ist performative Philosophie“, schreibt die Romanfigur Chris in einem Brief. Vielleicht schließt dieses Wir auch diejenigen ein, die Chris Kraus zitiert, auf die sie ihre Ideen und Theorien aufbaut. Eine längere Passage handelt etwa von der Body-Art-Künstlerin Hannah Wilke, die in den 1970er Jahren vermehrt ihren eigenen Körper in Fotos und Videos inszeniert hat.

In einer ihrer bekanntesten Arbeiten, S.O.S. – Starification Object Series, hat sie ihren nackten Oberkörper mit Kaugummi-Vaginen bestückt. Damit hat sie nicht nur die Kunstpresse gegen sich aufgebracht, sondern auch einige Feministinnen, die mit dieser Form von weiblicher Selbstdarstellung nichts anfangen konnten.

Ganz klar narzisstisch

An ihrem Beispiel zeigt sich: Der Sprechakt, Künstlerinnen als narzisstisch zu bezeichnen – und damit nicht nur sie, sondern auch ihre Kunst zu diffamieren –, ist weder neu noch selten. Chris Kraus, die Autorin, kennt ihn auch: „Als das Buch erschien, waren die meisten Reaktionen sehr kritisch. Klar muss es ein narzisstisches Buch sein, die Autorin wagt schließlich, über sich selbst zu schreiben!“ Die Debatte darüber, wie viel nichtfiktionales Ich die Gegenwartsliteratur ihrem Publikum zumuten darf, brodelt inzwischen wieder auf verschiedenen Herden des Feuilletons. Komischerweise ist die Literatur, von der da gesprochen wird, fast ausschließlich von Männern geschrieben: Stuckrad-Barre, Melle, Knausgård, zuletzt Walsers Alterswerk. Wenn man Kraus’ Theorie folgt, könnte das damit zusammenhängen, dass man von Frauen ohnehin nichts anderes erwartet. Ob ihr Buch in diesem Diskurs Gehör bekommt, wird sich erst noch zeigen.

Dass das Buch jetzt – 20 Jahre nach der US-Veröffentlichung – auf Deutsch erscheint, ist ein Glück und strategisch klug: Eine Umsetzung als Serie durch Jill Soloway (Transparent) ist in Arbeit, für Amazon. Dort ließ man zunächst einen Pilot filmen und das Publikum entscheiden, ob der Rest folgen soll. Seit vergangenem August dümpelt die erste Folge von I Love Dick auf der hauseigenen Streamingplattform, mittlerweile ist klar, dass dieses Jahr die gesamte erste Staffel ausgestrahlt wird – mit Kathryn Hahn als Chris und Kevin Bacon als Dick.

Die Veröffentlichungspolitik mag problematisch sein, aber die Serie wird ihr Publikum schon finden. Chris Kraus ist jedenfalls begeistert. Auch, weil sie in Kathryn Hahns Performance etwas sieht, das sie so nicht erwartet hat. Kein Abbild ihrer selbst vor 20 Jahren, sondern eine Figur, die gewissermaßen jede Frau und jede Künstlerin sein könnte: „Sie performt Unsicherheit, Begehren und Unbehagen.“ Damit ist sie gar nicht so anders als die Kunstfigur Chris und die Autorin Chris Kraus.

Info

I Love Dick Chris Kraus Kevin Vennemann (Übers.), Matthes & Seitz 2017, 296 S., 22 €

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