Ragnar Helgi Ólafsson, geboren 1971 in Reykjavik, hat schon 2017 mit Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können für einiges Aufsehen gesorgt. In dieser Sammlung von Liedern und Texten fallen die unterschiedlichen Felder in eins, auf denen sich Ólafssons künstlerische und literarische Arbeit bewegt: Er ist Schriftsteller, aber auch Grafiker; einige Gedichte stehen in ihrer typografischen Bild-Text-Verschmelzung in der Tradition konkreter Poesie. Eines davon imitiert etwa die Hringvegur, die Ringstraße, die ganz Island umkreist – in zwei konzentrischen Kreisen, im Uhrzeigersinn und dagegen.
Und Ragnar Helgi Ólafsson hat, neben Filmregie an der New York Film Academy, Französisch in Marseille und Kunst in Aix en Provence, an der Universität von Island Philosophie studiert. Seine Texte sind getragen von einem sanften Verlangen nach Erkenntnis, und danach, zu begreifen, was Erkenntnis eigentlich ist. Sie sind nicht trotzdem, sondern gerade deshalb oft sehr lustig und ausgesprochen tragisch. Dem Erzähler in den Gedichten kann es schon mal passieren, dass er ohne nachzudenken einen Brunnen hinabsteigt, und wieder hinaufzuklettern, „bleibt eine theoretische Möglichkeit, eine philosophische Idee“.
Voll philosophischer Ideen steckt auch Ólafssons soeben erschienenes Handbuch des Erinnerns und Vergessens, ein Prosaband mit dreizehn Erzählungen, wie sein Vorgänger ist er im niederrheinischen Nettetal beheimateten Elif Verlag erschienen. Bereits in der ersten dieser Erzählungen macht Ólafsson ernst mit seinem Thema und schreibt von der Subjektivität des Erinnerns. Der Protagonist versucht, seiner Erinnerung an ein eigentlich beiläufiges Ereignis aus der Kindheit Herr zu werden. Grammatikalisch verstrickt in eine seltsame Mischform aus Vergangenheit und Zukunft, reflektiert er auch das Erzählen selbst: Ein Erzählen von der Vergangenheit ist variabel und unstet. Was wichtig und unwichtig ist, kann hervorgehoben und weggelassen werden. Wie in einer kombinatorischen Permutation tauschen mitunter zwei Ereignisse die Plätze in der Abfolge eines Geschehens. Aber macht das das Erzählte weniger wahr?
Wackelnde Büste
In welchem Mischungsverhältnis Erinnerung, Wirklichkeit und Dichtung stehen, ist überhaupt eine Leitfrage, die sich durch das gesamte Buch zieht. „Das mit der Wirklichkeit und der Dichtung ist manchmal wie ein schlechter Witz“, heißt es an einer Stelle. Manchmal aber auch wie ein guter. Sigmund Freud, der das Erinnern und Vergessen, Verdrängen und Versprechen zu einem zentralen Gegenstand seiner Schriften gemacht hat, hat ein paar Gastauftritte in Ólafssons Buch. In der Erzählung Das Wappenschild, die obendrein von einem Totem handelt, gibt es eine Freud-Büste mit unebenem Boden: ein „Designerfehler“. Sie ist zwar zu schwer, um sie ohne Schweißausbruch zu heben, aber jeder Windhauch könnte sie vom Sockel fegen.
Schreiben ist auch ein Balanceakt. Ólafssons Texte sind heiter und zugänglich, aber im besten Sinn intellektuell durchtrieben. Dass das auch in deutscher Übersetzung so wunderbar funktioniert, verdankt sich der Leistung von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, die auch schon Ólafssons Lyrik gemeinsam übertragen haben.
An Referenzen und Verweisen auf andere Autoren spart Ragnar Helgi Ólafsson nicht. Dass etwa eine Erzählung, die in der argentinischen Nationalbibliothek spielt, sofort an den Bibliothekar und großen Verrätsler der Literatur, Jorge Luis Borges und seine Bibliothek von Babel denken lässt: geschenkt. Noch dazu, wo es in der Erzählung um einen Unglücklichen, mit einem vollkommenen Gedächtnis Gestraften geht – das klingt wie eine Variation von Borges’ Erzählung über eine Landkarte im Maßstab eins zu eins, in der sich die Vollkommenheit ebenfalls als Trugschluss herausstellt. Und dann liegt Ólafssons Nationalbibliothek ausgerechnet in der Julio-Cortázar-Straße.
Wenn dann in der Titelgeschichte endlich auch Fernando Pessoas Name fällt, ist man schon halb durch mit dem Buch und hat sich womöglich schon längst an den portugiesischen Schriftsteller, Autor des Buchs der Unruhe, erinnert gefühlt. „... aber dann bekam ich von Anna F. einen dicken Pessoa-Sammelband geborgt“, berichtet der Ich-Erzähler in seinem viel zu langen Brief. „Sie sagte mir, dass nur ich und kein anderer aus diesem Buch laut vorlesen dürfe, weil wir ‚so eine ähnliche‘ Stimme hätten, ich und der Autor, dieser portugiesische Einsamkeitsknabe.“
In einer der herausragenden Geschichten des Bandes wird das sexuelle Erwachen eines Jungen als Ereignis von ungeheurer metaphysischer Wucht gezeichnet. Nicht zuletzt geht es hier um die – durchaus zerstörerische – Macht menschlichen Vorstellungsvermögens. Jeden Morgen legt der Junge seine Stirn auf die kalte Glasscheibe und die Hände an die Schläfen, um besser nach draußen sehen zu können. Er sieht Bilder, die in seiner Imagination entstehen, seit er bei den Eltern ein Buch mit dem schönen Titel Sexfreuden – Der Genuss des Liebeslebens, erklärt in Wort und Bild gefunden hat. Eros und Thanatos, Lebens- und Todestrieb, liegen dicht beieinander. Ragnar Helgi Ólafsson beherrscht die hohe Kunst der Eskalation. Und Erzählungen, die halbwegs gewöhnlich beginnen, enden schon mal in satanischen Riten oder unter einem langsam und majestätisch in den Himmel wachsenden Atompilz.
Info
Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können. Lieder und Texte Ragnar Helgi Ólafsson Jón Thor Gíslason/Wolfgang Schiffer (Übers.) Elif Verlag 2017, 144 S., 18 €
Handbuch des Erinnerns und Vergessens Ragnar Helgi Ólafsson Jón Thor Gíslason/Wolfgang Schiffer (Übers.), Elif Verlag 2020, 198 S., 22 €
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