Unten und dagegen

Japan William Andrews erforscht die Proteste gegen Olympia 2020. Yu Miri erzählt von Menschen ohne Dach über dem Kopf
Ausgabe 36/2019
Olympische Kreuze: Gar nicht leise und dezent ist die Kritik am geplanten Megaevent
Olympische Kreuze: Gar nicht leise und dezent ist die Kritik am geplanten Megaevent

Foto: Zumapress / Imago Images

Schneller, höher, stärker: Im glänzend polierten Tokioter Stadtteil Shinjuku lässt sich der olympische Gedanke auf das gesamte Soziotop und seine äußere Erscheinung übertragen. Neben stolz emporgereckten Bürogebäuden gibt es ein Entertainment-Überangebot und zahllose andere Gelegenheiten, Geld loszuwerden. In Shinjuku demonstrierten Ende Juli Hunderte Aktivist*innen gegen die Olympischen Spiele, die im kommenden Jahr in Tokio ausgetragen werden. Viele von ihnen leben vor Ort und gehören zu Bewegungen wie „Hangorin no Kai“, die zum Widerstand gegen die Spiele aufrufen. Auch aus Los Angeles und Paris, den kommenden Austragungsorten, haben sich Aktivist*innen angeschlossen. Und aus Rio de Janeiro und dem südkoreanischen Pyeongchang, wo die Spiele zuletzt stattfanden.

Was wir sehen, ist unwichtig

„Für die Demonstrierenden geht es bei den Problemen mit den Olympischen Spielen um Gentrifizierung, globalen Kapitalismus und darum, wie Großunternehmen und andere Sponsoren eine Stadt vereinnahmen. Es geht auch um langfristig entstehende Schwierigkeiten – ganz konkret um die Politik der Tokioter Stadtregierung und ihre Haltung gegenüber den Obdachlosen in den Parks“, sagt William Andrews. Gerade für von Armut betroffene Einwohner*innen haben die Spiele teils existenzbedrohende Konsequenzen. Pierre Bourdieu sagte Anfang der 1990er: „Wenn wir von Olympischen Spielen sprechen, meinen wir damit ein äußerst komplexes Produkt, dessen im Stadion sichtbarer Teil nicht sein wichtigster ist.“ Bourdieu bezog sich hier auf die mediale Übertragung der Spiele, aber wenn es schon um Sichtbarkeit geht, muss man sich fragen, wer im Rahmen des Spektakels unsichtbar bleibt.

Während Premierminister Shinzo Abe die Spiele als „Recovery Games“ verkauft, mit denen sich Japan als von der Dreifachkatastrophe von Fukushima genesen präsentiert, formiert sich von verschiedenen Seiten Widerstand gegen die Großveranstaltung. Die Demonstration war Teil einer einwöchigen Versammlung mit Pressekonferenzen, Seminaren und Diskussionen. Die Olympischen Spiele verstehen sich vielleicht als globales Ereignis, aber auch die Proteste dagegen sind transnational, und sie werden immer lauter.

In Japan, sonst für Leisesein und Dezenz bekannt, gibt es eine erstaunlich lange Geschichte von Protest- und Gegenkulturen. Viele Gruppierungen waren radikal, teils militant, wenn man etwa die Klassenkämpfe der 1960er betrachtet. William Andrews hat zu den sozialen Bewegungen im Japan der Nachkriegszeit geforscht; in deutscher Übersetzung erschien 2018 sein Buch Die Japanische Rote Armee Fraktion (bahoe books). Derzeit beobachtet er die „NOlympics“-Bewegungen in Tokio, wo er seit Jahren lebt. „Es gibt so viele Themen, über die man in Bezug auf die Anti-2020-Proteste sprechen könnte: die Korruption, die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die schlechten Sicherheitsmaßnahmen auf den Baustellen, Umweltfragen – aber eben auch die Probleme, die speziell für die Obdachlosen entstehen.“

Wenn man nur auf die Zahlen schaut, scheint sich die Situation für Obdachlose in Japan zuletzt sogar zu verbessern – die Statistik ist jedenfalls rückläufig. Bei einer Zählung im vergangenen Juni wurden erstmals (knapp) unter 5.000 Obdachlose erfasst, landesweit. Laut Andrews muss man diesen Rückgang nüchtern sehen: Es haben sich neue Formen von Obdachlosigkeit herausgebildet – die Alten sterben, jüngere Wohnungslose leben oft unter sehr prekären Umständen, aber nicht unbedingt auf der Straße. Viele verbringen ihre Nächte schlicht in Cafés. „Die Regierung sieht das Problem nicht – sie denkt, sie hätte es gelöst“, stellt Andrews fest.

Wohl, weil das Problem phasenweise sichtbarer gewesen sein mag: In den 90ern lebten zahlreiche Obdachlose direkt in Shinjuku, in der Nähe des berühmten Bahnhofs, noch heute einer der verkehrsreichsten der Welt. Als dann ein neuer Sitz der Präfekturverwaltung in der Gegend errichtet wurde, mussten die Obdachlosen ihre Siedlungen räumen, sie wurden in alle vier Winde zerstreut. Und erst vor gut fünf Jahren kam es im Miyashita-Park zu Räumungen, als Nike dort einen großen kommerziellen Park errichten und ihn in Miyashita-Nike-Park umbenennen wollte. Das erinnert an David Foster Wallace’ Unendlicher Spaß, wo selbst die Kalenderjahre nach Sponsoren benannt sind. Nike hat sich die Namensrechte an dem Park gekauft (ja, das kann man). Es entstand, sagt Andrews, eine lebhafte und mitreißende Widerstandsbewegung. Letztlich gab es einen Teilerfolg: Nike hat den Park doch nicht umbenannt. Die Obdachlosen mussten trotzdem gehen.

„Viele von ihnen waren früher Arbeiter, zum Beispiel in der Bauindustrie“, erläutert Andrews. „Nach dem Zusammenbruch der Bubble Economy und durch andere Veränderungen in der Wirtschaft haben sie ihre Arbeit verloren.“ Das erkläre den steilen Anstieg der Obdachlosenzahlen in den 90ern – und auch die Demografie: Die Betroffenen sind fast alle männlich und überwiegend gleich alt. Heute arbeitet niemand von ihnen mehr auf dem Bau, dafür sind Tokios Obdachlose – so hart es klingt – zu alt. Im Stadtbild sind sie unsichtbar, ganz im Gegensatz zu den Erzeugnissen ihrer Arbeit, die Tokio bis heute ausmachen. „In der Nachkriegszeit haben sie Wolkenkratzer gebaut oder auch das alte Olympische Stadion. Was diese marginalisierten Menschen für die Stadt getan haben, ist tatsächlich beeindruckend“, so Andrews.

Was es bedeutet, an den Hochhäusern und Wolkenkratzern der Stadt mitgewirkt zu haben und – nicht trotzdem, sondern eher deshalb – selbst ganz unten zu sein, verdeutlicht die Autorin Yu Miri. Sie wurde in Japan geboren, besitzt aber die koreanische Staatsbürgerschaft. Ihre Familienbiografie (die Eltern kommen aus Korea) macht sie zur Angehörigen einer Minderheit, den Zainichi – sie leben zum Teil seit Generationen in Japan und kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dorthin, als Korea eine Kolonie Japans war. Zunächst kamen viele freiwillig, im Zweiten Weltkrieg jedoch auch als Zwangsarbeiter*innen – oder als Zwangsprostituierte, sogenannte Trostfrauen, für die japanische Armee.

Hart, aber auch bitter

Einerseits eine gefeierte und mit den wichtigsten Preisen des Landes ausgezeichnete Schriftstellerin, andererseits Außenseiterin in einer Gesellschaft, die Homogenität und nationale Identität hochhält – solche sozialen Gefälle spielen auch in ihren Romanen eine Rolle. Zuletzt hat Yu sich damit auseinandergesetzt, was es bedeutet, in Tokio auf der Straße zu leben. In ihrem noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman Toyko Ueno Station (Tilted Axis, Englisch von Morgan Giles) erzählt sie von Kazu, der 1933 am selben Tag wie der Kaiser geboren wurde. Kazu hat das Stadion für die Olympischen Spiele 1964 in Tokio mit errichtet, kein allzu schlechter Job für jemanden, der ohne Ausbildung vom Land in die Großstadt kommt.

Von da an geht es aber abwärts. Ein Tiefschlag nach dem anderen, schließlich landet er als Obdachloser im Park. Auch das könnte auf den ersten Blick schlimmer sein: Die Baracken bieten immerhin ein halbwegs dichtes Dach über dem Kopf. Es entsteht eine Gemeinschaft. Essen gibt es reichlich, die Lädchen im Bahnhofsviertel überlassen bereitwillig abgelaufene Lebensmittel, und auch die Kirchengemeinden speisen die Armen großzügig. Aber wenn der Kaiser sich ankündigt, um ins nahe gelegene Museum zu gehen, müssen Kazu und seine Schicksalsgenossen sofort ihre Hütten räumen – die Toleranz hat Grenzen, wenn die Polizei kommt, geht es schnell. Mit der Ankündigung der Olympischen Spiele bekommt die Bedrohung ein neues Ausmaß. Yu zeigt ein Tokio, das sich nur schwer mit den bekannten Bildern der Stadt in Einklang bringen lässt. Sie macht sichtbar, auf wessen Rücken das Wachstum der Stadt entstehen konnte – und welcher Zusammenhang besteht zwischen den imposanten Hochhäusern und den improvisierten Baracken im Park. Ein bisweilen harter und bitterer, aber auch: bitter notwendiger Roman.

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