„Ich mache alles“

Bettelnde Roma Persönlicher Bericht über eine Begegnung und den Versuch, etwas Gutes zu tun, ohne zu wissen, das das eigentlicht ist

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Ich treffe Georgeta das erste Mal vorm Edeka. Da weiß ich noch nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind. Sie sitzt gegenüber des Eingangs an einem Baum. Graue Strumpfhose, schwarze Gummi-Schlappen, ein rosa Kopftuch bedeckt die Hälfte ihres Kopfes. Ich werfe 50 Cent in den Becher, den Georgeta vor sich auf den Boden gestellt hat. Erst wollte ich einen Euro geben, dann fragte ich mich, ob ihr das Geld abgenommen wird und sich mit meinem Euro schmutzige Geschäftemacher und Menschenhändler bereichern. In dem Moment beschließe ich, ab sofort jedem Bettler, jeder Bettlerin 50 Cent zu geben. Die Geste zählt. Sie sollen nicht sagen, die Leute gäben nichts. Aber eigentlich tue ich genau das: nichts geben.

Eigentlich habe ich keine Zeit, wie immer. Ich spreche die Frau an. Mit den Händen umfasst sie einen neuen Baumwollbeutel. Eine Frau hat ihr Kekse und Süßens für die Kinder eingepackt. Sie freut sich, dass ich mich für sie interessiere. Ich habe in den vergangenen Jahren mit Dutzenden von Menschen wie Georgeta gesprochen. Menschen, die in Berlin betteln. Die aus Rumänien kommen. Die hier Fremde sind und Fremde bleiben.

Georgeta kommt aus dem Kreis Ilfov. Mit dem Mikrobus braucht man 20 Minuten nach Bukarest. Sie ist gewohnt zu sagen, dass sie aus Bukarest kommt. Das kennen die Deutschen wenigstens.

Ich frage sie, ob sie gern arbeiten würde. „Ja“, sagt sie, das würde sie gern. „Ich mache alles, Haushalt, Kochen, Putzen. Ich mache auch Gartenarbeit. Und ich nähe, ich habe sogar eine Nähmaschine“, sagt Georgeta. Ich schaue sie prüfend an und habe den starken Impuls, für sie eine Arbeit zu finden. Ob sie wirklich interessiert sei. Ja, unbedingt, versichert sie mir. Dafür sei sie auch bereit, den Rock gegen eine Hose einzutauschen.

Sie erzählt von der Familie. Bei ihrer Tochter wohne sie, gleich hier im Kiez. Die habe vier Kinder. Der Große sei hier zur Schule gegangen, er habe eine Lehre als Koch absolviert und im Hotel gearbeitet. Jetzt wegen des Virus sei es geschlossen und er sei arbeitslos. Zwei gingen noch zur Schule. „Die Lehrerin bringt ihnen die Hausaufgaben“, erzählt sie. Und die Jüngste sei mit ihren drei Jahren noch zu Hause, sie habe noch keinen Kita-Platz.

Georgeta nennt sich und die ihren „Zigeuner“. Sie seien anders als die anderen „Zigeuner“, sagt sie. Sauber. Auch wenn sie etwas braunere Haut als die Rumänen hätten, seien sie ordentliche Leute. Aus den Kindern sei etwas geworden, dafür habe sie gesorgt.

Am nächsten Tag gebe ich eine Anzeige auf: „Hilfe in Haus, Hof und Garten“. Ich erkläre, dass eine Bekannte sich etwas dazuverdienen möchte. Ich verschweige, dass es überhaupt ihr einziges regelmäßiges Einkommen wäre. Und ihr erster Job in Deutschland.

Anfang der 90er Jahre war sie als Asylsuchende in Deutschland gewesen, dann abgeschoben worden und seit ihre Tochter vor etwa sieben Jahren hierher ausgewandert ist, ist auch sie immer wieder gekommen. In Rumänien bewohnt und renoviert sie seit vielen Jahren ihr Elternhaus. Es gibt noch keinen Wasseranschluss, aber schon Strom.

Kurze Zeit später meldet sich ein älterer Herr, der Hilfe im Haushalt braucht. Wir telefonieren. Seine polnische Putzfrau könne wegen Corona gerade nicht einreisen. Ich fürchte, er könnte Georgeta ablehnen wegen der landläufigen Vorurteile über RumänInnen. Aber damit hat er überhaupt kein Problem. Er wirkt freundlich und ist auch bereit, Georgeta bei der Minijobzentrale anzumelden. Darauf habe ich bestanden. Der Mindestlohn liege derzeit bei 9,35 Euro die Stunde, sage ich und rechne vor, was ihn Georgetas Gehalt und die Beiträge an die Minijobzentrale ungefähr kosten würden. Er zahle ihr 10 Euro, sagt er.

Am nächsten Tag treffe ich Georgeta. Wir sitzen auf einer Bordsteinkante in der Nähe der Wohnung ihrer Tochter. Unweit von hier wohnt auch der Herr, mit dem ich telefoniert habe. Ich freue mich, dass Georgeta es nicht weit zur Arbeit hätte. Pro Woche müsste sie etwa 2,5 Stunden arbeiten. Damit verdiene sie immerhin 100 Euro im Monat, erkläre ich ihr. Das findet sie ein bisschen wenig. Ich verstehe nicht. Ich kann sie überzeugen, dass dieser Job ein Anfang sein könnte und dass 100 Euro besser als Betteln seien. Sie sollte sich allerdings eine deutsche Handynummer zulegen, rate ich ihr. Das koste vielleicht 8 Euro. Das ist ihr zu viel. Na gut, sage ich, dann müsste sie über WhatsApp erreichbar sein. Und ein Konto bräuchte sie hier, weil sie das Geld überwiesen bekomme.

Georgeta sieht mich fragend an als ich mit einem Musterarbeitsvertrag herumwedle, um ihr ein Gefühl dafür zu geben, dass es ernst gemeint ist und wie das alles aussehen könnte. Sie möchte viel lieber noch so Vieles erzählen und hat Mühe sich auf die Details eines möglichen Minijobs zu konzentrieren. Ich sage, sie sei unfallversichert. Das sei wichtig. Krankenversichert sei sie aber nicht. Ich versuche ihr Mut zu machen. Wir sitzen in der Sonne und sie bietet mir eine Zigarette an.

Sie nimmt mich mit zu ihrer Tochter. In der kleinen 2-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines modernen Wohnblocks mit Fahrradständern und Spielplatz vorm Haus halten sich etwa zehn Personen auf. Die Heizung läuft, es ist feucht-warm. Es seien Gäste da, sagt Georgeta, und zeigt auf zwei junge Männer. Der Fernseher flimmert im Hintergrund. Georgeta stellt mir ihre Tochter vor: eine schöne, junge Frau mit langem, schwarzem Haar. Die macht große Augen und sagt: „Ich kenne dich!“ Auch ich erinnere mich, dass sie vor einigen Monaten in der U-Bahn fast ohnmächtig geworden war und ich ihr Wasser angeboten hatte. Jetzt erinnerte sich auch ihre Mutter. Ich hoffte, dass damit einmal mehr klar sei, dass ich ein „guter Mensch“ war und mit dem Bemühen um einen Job für Georgeta nichts Böses im Schilde führte. So wie das manch andere tun.

Georgeta erzählt den Anwesenden von dem Job-Angebot. Statt „älterer Mann“ sagt sie „Familie“. Weil es ihr ihre Tochter sonst nicht erlauben würde. „Nach unserem Gesetz darf eine alleinstehende Frau nicht allein sein mit einem alleinstehenden Mann“, erklärt sie mir. Ich frage, ob denn Lügen nicht auch gegen ihr Gesetz verstoße. „Ja!“, ruft sie aus. „Dann passen wir die Wahrheit nur ein bisschen an eure Gesetze an“, sage ich. Sie nickt.

Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Sie hat Angst. Allein bei einem Mann zu putzen, an diesen Gedanken muss sie sich erst gewöhnen. Ihrer Tochter will sie die Details verschweigen. Georgeta ist 55 Jahre alte, sie hat die Grundschule abgeschlossen. Im Kommunismus war es viel besser als heute, sagt sie. Sie spricht ein schönes Rumänisch, das der gepflegteren Leute. Sie sagt „urinieren“ und nicht „pissen“.

Als ich zum Haus des älteren Herrn komme, um ihn kennenzulernen, wartet Georgeta schon auf mich. Sie sitzt auf einem großen Stein und wundert sich, wie dünn ich angezogen bin. Sie hat etwas sehr Mütterliches, Freundliches. Wir gehen ein Stück und sie sagt, sie könne den Job nicht annehmen. Ab nächster Woche könne man wieder reisen und ihre Kinder hätten ihr vorgeschlagen, ein Flugticket nach Rumänien zu kaufen. Ich verstehe und verstehe auch nicht.

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