Heraus aus der Bedeutungslosigkeit

Rezension Während die Bevölkerung in Rumänien schrumpft wächst die Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin Rumänistik im deutschsprachigen Raum. Ein Blick auf Migration, Statistik und aktuelle Rumänienforschung

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Am 30. Dezember 2022, zwischen dem Weihnachten der westlichen Christenheit am 25. Dezember und dem der östlichen Christenheit am 7. Januar, gab die rumänische Statistikbehörde INS endlich die ersten vorläufigen Ergebnisse des letzten Zensus' des Vorjahres 2021 bekannt. Und eins wird gleich klar: Die Bevölkerung Rumäniens schrumpft. Oder um es mit den Worten der DemographInnen zu sagen: „Der demographische Alterungsprozess hat sich vertieft“. Die offizielle Einwohnerzahl Rumäniens betrug zum Stichtag 1. Dezember (Nationalfeiertag!) weniger als 20 Millionen, nämlich 19.053.815 Personen.

Jedoch – die immer wenigeren werden immer genauer unter die Lupe genommen. Dass knapp ein Viertel der rumänischen Bevölkerung nicht rumänischer Herkunft ist, ist wohl DAS Trauma der modernen rumänischen Geschichte. Erstmals wurden diesmal die Daten, die auf die Zugehörigkeit zu einer ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheit verweisen, miteinander kombiniert. So wird dargestellt, in welcher der 20 nationalen Minderheiten welche Muttersprache gesprochen wird, und welchen Religionen sich die Angehörigen einer Minderheit zugehörig fühlen. Dies führt zu spannenden neuen Erkenntnissen über die Vielfalt der Bevölkerung Rumäniens.

So gaben mehrere Tausend der insgesamt rund 1 Mio. UngarInnen Rumänisch als Muttersprache an – und etwas mehr RumänInnen gaben umgekehrt Ungarisch als ihre Muttersprache an. Von den knapp 600.000 Menschen, die sich als „Roma“ deklariert haben, sprechen über die Hälfte Rumänisch und knapp ein Drittel Romanes als Muttersprachen; umgekehrt gaben knapp 10.000 ethnische RumänInnen Romanes als ihre Muttersprache an. Die drittgrößte Minderheit im Land ist längst nicht mehr die deutsche, sondern mit knapp 46.000 Zugehörigen die ukrainische – und sie dürfte im letzten, hier noch nicht berücksichtigten Jahr, weiter gewachsen sein. Von den rund 23.000 Angehörigen der deutschen Minderheit(en) gaben nur etwa 14.000 Deutsch als ihre Muttersprache an; die übrigen sind Rumänisch- oder UngarischmuttersprachlerInnen.

Im Vergleich zum Zensus von 2011 hat die rumänische Bevölkerung um fünf Prozent abgenommen. Umfangreiche Schlüsse lassen die nun veröffentlichten vorläufigen Zahlen zwar nicht zu, aber es scheinen sich zwei Trends fortzusetzen, oder gar zu beschleunigen: die (Über-)Alterung der Bevölkerung und die (temporäre) Auswanderung. Für SoziologInnen zweifellos interessante Untersuchungsgegenstände.

Dass auch die Rumänistik eine Wissenschaft wäre, die hier stärker Zugänge eröffnen könnte, wäre zu wünschen. Im deutschsprachigen Raum ist das Feld, was sich mit der Forschung zu „rumänischer Kultur, Sprache, Literatur, Kunst, Geschichte usw.“ (Wikipedia) befasst, überschaubar. Nichts desto trotz ist dieses Feld ein interessantes und lohnenswertes, wie ein kürzlich erschienenes Buch im Wissenschaftsverlag Frank & Timme zeigt.

Der Band „Kaleidoskop Rumänien“ will – wie es der Untertitel verrät - „Einblicke in die aktuelle Vielfalt des interdisziplinären Faches Rumänistik“ geben. Herausgegeben wurde er von Valeska Bopp-Filimonov, die an der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität eine Juniorprofessur für Rumänistik inne hat (die einzige Rumänistik-Professur Deutschlands), und Martin Jung, einem ebenfalls in Jena lehrenden und forschenden Osteuropa-Historiker mit einem Schwerpunkt auf Rumänien.

Auf 227 Seiten versammelt der Band Beiträge von zehn jungen ForscherInnen, die sich innerhalb verschiedenster Fachdisziplinen mit Rumänien-bezogenen Fragestellungen beschäftigt haben. Vielleicht ist das das Wesen der Rumänistik: dass sie einerseits ein recht kleines Feld zu sein scheint – andererseits aber mit unzählbaren Forschungsfeldern Berührungspunkte haben kann. Freilich wirft das die Frage auf, was genau denn die Rumänistik eigentlich ist. Und die Beliebigkeit, die in der Wikipedia-Definition in der Abkürzung „usw.“ mitschwingt, ist auch beim aktuellsten Band in der Reihe „Forum Rumänien“ nicht ganz von der Hand zu weisen.

Die Analogie des Kaleidoskopes ist eine sehr passende, wenn man bedenkt, dass die Beiträge jeweils spezifische - teils auch sehr spezielle - Themen beleuchten. So geht es um narrative Strategien in der siebenbürgischen Presse (Enikő Dácz), um die Situation der Deutschböhmen in der Bukowina (Johann Wellner), katholische Gesellenvereine (Martin Jung). Weiterhin werden literarische Strategien im Roman „Disco Titanic“ (Gundel Große), die Dystopie „Adio, Europa!“ im Kontext der COVID-Pandemie (Miruna Bacali), das politische Denken der rumänischen Dissidenz (Felix Heubaum) und Solidarität und Ausgrenzung im politischen Diskurs (Daniel Biro) untersucht. Schließlich finden sich Beiträge zu rumänischen Plattenbauten (Jana Stöxen), zu ehemaligen Fabrikarbeitern im postsozialistischen rumänischen Roman (Valeska Bopp-Filimonov) und zu den jüngsten Massenprotesten in Bukarest (Henry P. Rammelt).

Die HerausgeberInnen ermöglichen einen Blick mit der Lupe – auf verschiedene Epochen, Regionen und Diskurse. Sie beweisen Mut, indem sie die eisernen Grenzen der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen aufweichen: Geschichts- und Literaturwissenschaft, Sprach- und Politikwissenschaft finden ihren je eigenen Zugang zu einem Land „Rumänien“ – oder einem Konzept „Rumänien“? - wie verschiedenste Forschungsmethoden, Ansätze und Stile nebeneinander gestellt werden. Einleitend schreiben sie deshalb zu recht: „Man ändere eine Komponente bei der Betrachtung von Geschichte und Gegenwart Rumäniens, und es ergibt sich eine andere Perspektive, die diese Vielfals illustriert. Rumänien ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch“ (7).

Bemerkenswert an den verschiedenen Blicken mit der Lupe ist, dass in jedem Beitrag Entdeckungen zu machen sind, die den eigenen Blick für die Nuancen und Vielfältigkeit Rumäniens schärfen. Martin Jung etwa schreibt in seinem Beitrag die Ortsnamen in allen drei wichtigen Sprachen Siebenbürgens, Rumänisch, Ungarisch und Deutsch - ein sowohl methodisch als auch inhaltlich nachahmenswertes Vorgehen. Gundel Großes literaturwissenschaftlicher Beitrag aus dem rumänisch-jugoslawischen Grenzgebiet macht darauf aufmerksam, dass „Serbokroatisch“ die Amtssprache Jugoslawiens war (85) – eine Tatsache, die in der Migrantionssozialarbeit in der Bundesrepublik endlich Beachtung finden sollte. Und Daniel Biro gelingt es in seinem Beitrag, die rumänische Geschichte in einem einzigen klugen Satz zusammenzufassen: „Um vom Königreich Rumänien, das bis 1947 existierte, über die von der Sowjetunion beeinflusste kommunistische Volksrepublik Rumänien und der diktatorisch regierten Sozialistischen Republik bis hin zur heutigen demokratisch geprägten semipräsidentiellen Republik eigene Erfahrungen gesammelt zu haben, reicht ein Menschenleben theoretisch aus“ (129).

Genauso wie es DAS EINE Rumänien nicht gab und gibt, scheint es auch DIE EINE Rumänistik nicht zu geben. Insofern gebührt den HerausgeberInnen Dank und Anerkennung dafür, dass sie Themen und Fragen zusammengestellt haben, die unter den üblichen Umständen des Wissenschaftsbetriebes wohl niemals zueinander gekommen wären. Offen bleibt allerdings, inwieweit diese Methode einerseits auch (Noch-)Nicht-Fachleuten Zugänge zum Untersuchungsgegenstand „Rumänien“ eröffnen kann, und andererseits, inwiefern sie Fachleute aus ihren jeweiligen Einzelwissenschaften herauslocken und ins Feld der Rumänistik führen kann.

Die Rumänistik in Deutschland zu stärken, ist auch deshalb ein wichtiges Anliegen, weil die Bundesrepublik seit Jahren eines der beliebtesten Zielländer der rumänischen Emigration ist, was die Daten des aktuellen Zensus' ebenfalls andeuten. In der Sozialen Arbeit mit rumänischen MigrantInnen braucht es schließlich genau das: einen unvoreingenommenen, Vielfalt wertschätzenden Blick auf einzelne Menschen, ihre Familien, ihre Sprache(n), ihre Herkunftsregion, ihren individuellen Bildungshintergrund und die politischen Umstände, die sie zu den Menschen gemacht haben, die sie sind. Und die hierzulande – zu Unrecht - auf eine rumänische Herkunft reduziert werden, die es – wie der hier besprochene Band, aber auch die Ergebnisse des Zensus' von 2021 zeigen - als solche gar nicht gibt.

Quellen:

Bopp-Filimonov, Valeska; Jung, Martin (Hg.) (2022): Kaleidoskop Rumänien. Einblicke in die aktuelle Vielfalt des interdisziplinären Faches Rumänistik. Berlin: Frank & Timme (Forum, Band 45).

Institutul Național de Statistică (INS) (30.12.2022): Primele date provizorii pentru Recensământul Populației și Locuințelor, runda 2021. Online verfügbar unter https://insse.ro/cms/sites/default/files/com_presa/com_pdf/cp-date-provizorii-rpl2021.pdf, zuletzt geprüft am 30.12.2022.

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