Gut gemeint und antiziganistisch gemacht

Sinti und Roma Von einer "zweiten Verfolgung" nach 1945 sprechen Bürgerrechtsaktivist*innen. Gesellschaft, Politik und Kirche sollten das geschehene Unrecht endlich anerkennen und mit der Minderheit in versöhnende Kooperation treten. Aber wie?

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„Wer Auschwitz überlebt hat und weiter an Gott festhält – von dem hätte eine Kirche viel zu lernen“, sagte die katholische Theologin Valerie Mitwali anlässlich der Jahrestagung des Netzwerkes „Sinti Roma Kirchen“ in Nürnberg. Sie forscht aus systematisch-theologischer Perspektive zu Katholizismus und Antiziganismus. Mitwali - große, dunkle Brille, dunkel gekleidet, offenes Haar - spricht ernst und eindringlich. Sie skizziert das Verhältnis der katholischen Kirche zur Minderheit der Sinti und Roma seit 1945.

Sie zeichnet dabei nach, mit welch antiziganistischen Stereotypen katholische Strukturen arbeiteten. So ist etwa die Vorstellung einer nomadischen Lebensweise bis in jüngere Zeit prägend für Seelsorgeangebote und Weltkongresse gewesen. Für Sinti und Roma gab es in der Kirche keinen Platz; sie waren aus kirchlicher Perspektive Gruppen, denen geholfen werden soll, die der Armenfürsorge bedürfen und für die es spezielle Angebote braucht. Waren oder sind? Das ist der springende Punkt, denn: „Was irritiert, ist das lange Festhalten der Kirche an der Fremdbezeichnung“, sagt Mitwali.

Im defizitären Blick auf die heterogene Minderheit setzt sich das fort, was einst in die Gaskammern von Auschwitz führte: eine rassistische und rassifizierende Beurteilung, die entsprechende „Maßnahmen“ erforderte. Was nach 1945 folgte, war eine auf anderen Wegen fortgesetzte Ausgrenzung, Stigmatisierung und Benachteiligung, die sich etwa dadurch ausdrückte, dass deutsche Sinti und Roma von deutschen Behörden zu Staatenlosen erklärt wurden. „Hitler hat uns wenigstens noch als Deutsche in die Konzentrationslager gebracht; nun werden wir zu Staatenlosen abgestempelt, obwohl wir schon so lange hier leben“, wird ein Sinto in einer zeitgenössischen Schrift zitiert.

Die Maßnahmen, die wegen der vermeintlichen Andersartigkeit der Minderheit zu ergreifen waren, wurden auch von kirchlichen Einrichtungen wie Diakonie und Caritas umgesetzt. Rat und Hilfe holte man sich von „Expert*innen“, deren Erkenntnisse teils auf rassebiologischen Forschungen der NS-Zeit stammten. Die Sintiza Natalie Reinhardt spricht deshalb auf der Tagung in Nürnberg auch von „kontaminiertem Wissen“.

Solches Wissen verbreitete etwa der Arzt und Erbhygieniker Hermann Arnold, der sich in seiner Forschung auch auf Befunde der Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle der Nazis berief. Er schrieb 1973 für die Caritas-Zeitschrift den Aufsatz „Das Zigeunerproblem“. Dass dieses Wissen nicht randständig, sondern prägend für Generationen von Sozialarbeiter*innen, Fürsorger*innen und kirchliches Personal war, zeigt schon ein Blick auf weitere im Band versammelte Beiträge: „Erscheingungsformen und Ursachen der Nichtseßhaftigkeit“, „Tageseinrichtung für Zigeunerkinder“, „Ein Wohnprojekt für ,seßhafte' Zigeuner“, „Zigeuner unter uns“, „Erfahrungen bei der Arbeitsvermittlung für Zigeuner“oder auch „Zur seelsorgerlichen Betreuung der Zigeuner“.

Silvia Sobeck, ihrerzeit Sozialreferentin der katholischen Kirche, steuerte den Beitrag „Integration der Zigeuner – Chance oder notwendiges Übel?“ bei. Sobeck war eine der schillerndsten und umstrittensten Figuren jener Zeit: Sie erkennt – im Gegensatz zur damaligen Bundesrepublik – den NS-Völkermord an Sinti und Roma an, sie trägt lange Kleider und verkörpert eine sozialpädagogische Wende in der Minderheitenpolitik der Kirche. Valerie Mitwali zitiert Sobeck mit den Worten, es gebe „eine große soziale Distanz zwischen den Zigeunern und uns“. Wobei Mitwali das Z-Wort vermeidet und stets von „Fremdbezeichneten“ spricht.

Sobeck wird auch rund 20 Jahre später noch als Expertin herangezogen. In einem Beitrag über bettelnde rumänische Roma in westdeutschen Großstädten zitiert der Spiegel sie 1990 als „Roma-Kennerin“ mit den Worten: „In der ,zigeunerischen Gesellschaft' […] teilten Kinder ,das Leben der Erwachsenen' und würden ,von ihren Eltern so eingesetzt, wie sie gebraucht werden'“. Das kontaminierte Wissen wandelt seine Gestalt, bleibt aber im Kern gleich. Gleich antiziganistisch.

So muss zurecht gefragt werden, wie Versöhnung, Vergebung und Sühne gestaltet werden können. Kirche, Politik und Gesellschaft haben sich seit 1945 weiter schuldig gemacht an der deutschen Minderheit der Sinti und Roma. Eine Aufarbeitung der von Mitwali problematisierten Weltkongresse – zuletzt mit dem Titel „Die jungen Zigeuner in der Kirche und in der Gesellschaft“ (2008) – oder der antiziganistischen Wissensbestände, auf denen kirchliche Sozialarbeit fußt(e), oder der Tätigkeiten von Institutionen wie der „Katholischen Zigeuner- und Nomadenseelsorge“ steht aus. Das trifft weitestgehend für beide große Kirchen in Deutschland zu.

Damit ein Versöhnungsprozess überhaupt in Gang kommen kann, müsste wohl zunächst die problematische Kontinuität antiziganistischer Ansätze und vorurteilsbeladener Denkweisen im Raum der Kirchen gekappt werden. Erste Schritte dahin gibt es; so etwa die Reise von Vertreter*innen der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma nach Auschwitz. Und auch das im Bundesprogramm „Demokratie leben“ geförderte Netzwerk „Sinti Roma Kirchen“ ist ein erster wichtiger Schritt, denn vor der Versöhnung muss es darum gehen, das geschehene Unrecht, seine Ausmaße, seine Folgen, überhaupt greifbar zu machen, zu verstehen. Und bei aller Neigung zum Theoretisieren auch auf menschlicher Ebene fühlend zu verstehen.

Natalie Reinhardt von der Landesvertretung deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg gibt anhand von Beispielen dazu Gelegenheit, indem sie Fälle aus ihrer Antidiskriminierungsberatung vorstellt. So etwa die Geschichte einer alleinerziehenden Sintiza, deren fünftes Kind aus Platzmangel sein Bettchen in der Küche hatte und damit ein „Fall“ fürs Jugendamt wurde. Die Inobhutnahme des Kindes wurde weniger mit sachlichen Argumenten und vielmehr mit antiziganistischen Vorurteilen („Rabenmutter“) begründet. Und eben dieses Handeln ist im Kontext der Zwangsassimilierungsmaßnahmen zu sehen, denen Sinti und Roma jahrzehntelang ausgesetzt waren. Die Inobhutnahme und Fremdunterbringung von Kindern war ein Mittel, mit dem die kulturelle Identität der Minderheit gebrochen werden sollte. Was heute geschieht, kann die Traumata von Menschen aktualisieren, deren Vorfahren die Konzentrationslager überlebt haben.

Einen kritischen Blick auf antiziganistische Vorurteilsstrukturen in heutiger Sozialer Arbeit hat auch die Unabhängige Kommission Antiziganismus geworfen und kommt dabei zu der Einschätzung: „Nahtlos fädelt sich dieser sozialarbeiterische Rassismus in die seit zwei Jahrzehnten aufgelegten EU-Programme zur ,Inklusion von Roma' ein, durch die sich Sozialarbeiter_innen und ihren Organisationen zwar neue Beschäftigungsfelder erschließen, dies aber nicht selten zu Lasten und zum Schaden der von diesen Projekten betroffenen Communitys von Sinti_ze und Rom_nja“. Es bleibt also die Frage, was daraus gelernt werden kann.

Wie kann Soziale Arbeit, von der Sinti und Roma profitieren, aussehen? Müssen wir weg von Maßnahmen, die sich - wie die EU es in ihren Programmen nennt - „explizit aber nicht exklusiv“ an die Minderheit richten? Müssen wir weg davon, Sinti und Roma überhaupt als Zielgruppe von politischen Programmen und Projektförderungen zu benennen? Dotschy Reinhardt vom Landesrat deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg argumentiert in diese Richtung als Mitarbeiterinnen der Diakonie Hasenbergl aus München ihre Projekte für junge Sinti vorstellen.

Und eine weitere Frage muss vorerst offen bleiben: Die Frage nach den Roma bei den „Sinti und Roma“. Eine deutsche Sintiza in Nürnberg etwa wehrt sich dagegen, „als Roma gelesen zu werden“. Klar grenzen sich Vertreter*innen der deutschen Sinti von den neuzuwandernden Roma aus Ost- und Südosteuropa ab mit Verweis darauf, dass sie Angehörige anderer Staaten seien und insofern diesen gegenüber ihre Rechtsansprüche durchsetzen könnten.

Abseits dessen gibt es aber auch Beispiele für ein anderes Verständnis dessen, was getan werden muss. So berichtet in Nürnberg auch eine Streetworkerin aus Stuttgart von ihrer Arbeit. Renate Melis - ruhig, blonde Locken, zierliche Statur - arbeitet im Projekt „Teilhabe von Roma“, was von der Diakonie Württemberg getragen wird. Ziel ist es, „eine Brücke zwischen den Hilfeangeboten, der Community und der Gesellschaft“ zu schlagen. Melis ist Sintiza und spricht die meist aus Rumänien stammenden Rom*nja in den Parks und Straßen von Stuttgart meist auf Romanes an. Auf die Frage, ob sie denn eine Verbindung zwischen sich und den Zugewanderten spüre, sagt sie: „Ich sehe sie schon als meine Leute“.

Quellen:

Arnold, Hermann (1973): Das Zigeunerproblem. In: Caritas. Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft 74 (1), S. 281–285.

Exotischer Touch. Zigeuner. Bettelnde Roma-Kinder verunsichern die Einwohner westdeutscher Großstädte. Ein Bonner Gericht verurteilte eine Roma-Frau als Rabenmutter (1990). In: DER SPIEGEL, 12.08.1990 (33/1990). Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/exotischer-touch-a-b3e358b4-0002-0001-0000-000013500362, zuletzt geprüft am 26.11.2023.

Unabhängige Kommission Antiziganismus (2021): Perspektivwechsel - Nachholende Gerechtigkeit - Partizipation. Bericht. Drucksache 19/30310. Hg. v. Deutscher Bundestag. Online verfügbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/303/1930310.pdf, zuletzt geprüft am 03.07.2021.

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