Bizarre Blüten

Corona Gesellschaft und Politik haben sich einem Pandemie-Absolutismus verschrieben. Das schadet am Ende mehr, als es nützt
Ausgabe 18/2020
Es ist Sache der Fachleute, zu bestimmen, wie man eine Krankheit bekämpft. Aber es ist Sache der Gesellschaft, zu entscheiden, ob sie die Krankheit überhaupt bekämpfen und die dafür notwendigen Kosten tragen will
Es ist Sache der Fachleute, zu bestimmen, wie man eine Krankheit bekämpft. Aber es ist Sache der Gesellschaft, zu entscheiden, ob sie die Krankheit überhaupt bekämpfen und die dafür notwendigen Kosten tragen will

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

„Terra incognita“ nannten die Seefahrer früher die von Europäern unerforschten Gegenden der Welt: unbekanntes Gebiet. Die Zukunft in Zeiten von Corona ist ein solches unbekanntes Gebiet, in das wir gerade gemeinsam vordringen. Alles ist möglich. Das liegt am Virus selbst, über das die Wissenschaft immer noch weniger weiß, als uns lieb sein kann. Aber das liegt auch an der Politik, die in einer Aktionsstarre gefangen ist. Die Politiker fühlen sich gezwungen, zu handeln, wissen aber nicht, was sie tun sollen – das Ergebnis war der Lockdown, der gleichzeitig den umfangreichsten staatlichen Eingriff darstellt und den totalen Verzicht auf jeden politischen Gestaltungsanspruch.

Zum ersten Mal hört die Politik auf die Wissenschaft – und das Ergebnis ist ein großes Missverständnis. Denn auch die Wissenschaft liefert nicht die Wahrheit, nach der es die Menschen so verlangt.

Beispielhaft dafür ist die Begegnung des Virologen Christian Drosten mit der Öffentlichkeit. Drosten wartet seit Wochen zuverlässig mit seinen Erkenntnissen auf. Soweit man das erkennen kann, erhebt er dabei keinen anderen Anspruch als den auf wissenschaftliche Redlichkeit. Aber die Medien lechzen nach gesicherten Informationen und nach Wahrheit. Damit kann Drosten nicht dienen. Seine Wissenschaft liefert nur Rohmaterial, und auch das ist veränderlich. Der Nutzen von Schulschließungen und Maskenpflicht, die Bedeutung der Werte „Verdoppelungszeit“ oder „Reproduktionszahl“, all das ist unsicher und mag heute als Basis für politische Maßnahmen taugen, morgen schon nicht mehr.

Es ist der Wissenschaft kein Vorwurf daraus zu machen, dass aus ihr allein noch keine Politik entsteht. Denn Politik bedeutet die Abwägung vieler Interessen und nicht die Unterordnung aller Interessen unter ein einziges Prinzip – dazu taugt nicht einmal der Schutz des menschlichen Lebens. Es ist, so paradox das auf den ersten Blick auch erscheinen mag, nur ein Gut unter anderen. Darum leisten weder Staat noch Gesellschaft jederzeit alles dafür, absolute Sicherheit für jedes einzelne menschliche Leben zu gewährleisten. Aber in der Corona-Krise soll das plötzlich gelten. Aus irgendeinem Grund haben sich Staat und Gesellschaft auf diesen „Pandemie-Absolutismus“ festgelegt, und man gewinnt den Eindruck, je höher der Einsatz wird – an menschlichem Leid und wirtschaftlichen Kosten –, desto weniger können wir von dieser Entscheidung abrücken.

Dabei lässt sich ein verantwortungsvoller Weg aus dieser Krise ja vorstellen: Die Kindergärten müssen geöffnet werden und die Schulen in den unteren Klassen. Im Alltag muss Rücksicht auf die gefährdeten Gruppen genommen werden, das sind die sehr Alten und die Menschen mit zwei Vorerkrankungen; auf Großveranstaltungen werden wir lange verzichten müssen, aber Restaurants, Theater und Kinos müssen öffnen. Vor allem: Einen zweiten Lockdown darf es nicht geben.

Aber als der Jesuitenpater Klaus Mertes dafür plädierte, nicht aus Angst vor dem Tod das Leben zunichtezumachen, warf ihm der sonst so kluge Journalist Patrick Bahners vor, dafür zu werben, „sich auf massenhaften Erstickungstod als Teil des Lebens einzulassen“. Als der Autor dieser Zeilen Fragen nach der Schlüssigkeit der Zahlenbasis stellte, die der offiziellen Corona-Politik zugrunde liegt, zieh ihn der Medien-Journalist Stefan Niggemeier der „Ignoranz“. Selbst jemand wie Wolfgang Schäuble, der am vergangenen Wochenende daran erinnerte, dass die Würde des Menschen das oberste Prinzip unseres Staates sei, nicht das Leben, dringt mit seiner Mahnung kaum durch.

Ist niemandem aufgefallen, wie sonderbar es ist, dass sich beim Streit um die „Lockerungen“ – ein Begriff, den man vor allem aus dem Strafvollzug kennt – diejenigen rechtfertigen mussten, die für eine Rückkehr zu den bürgerlichen Freiheiten eintraten, und nicht diejenigen, die weiterhin Freiheiten beschneiden wollten?

Stattdessen haben wir eine Umkehr der Beweislast, die bizarre Blüten treibt. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schrieb über das Ergebnis einer Studie zur Wirkung von Schulschließungen: „Kurz gesagt: Wir wissen nicht, wieviel Schulschließungen bringen. Schulöffnung muss daher sehr gut epidemiologisch vorbereitet sein.“ Wir kennen also nicht den epidemiologischen Nutzen einer einschneidenden Maßnahme, wir kennen hingegen sehr gut ihre verheerenden sozialen und psychologischen Folgen – und dennoch soll die Aufhebung dieser Maßnahme in die Hände der Epidemiologen gelegt werden? Willkommen in der Corona-Welt.

Es ist Sache der Fachleute, zu bestimmen, wie man eine Krankheit bekämpft. Aber es ist Sache der Gesellschaft, zu entscheiden, ob sie die Krankheit überhaupt bekämpfen und die dafür notwendigen Kosten tragen will, an Leid, Einsamkeit, Verzicht, Geld.

Drosten und seine Kollegen können den Weg in eine gleichsam keimfreie und seuchensichere Gesellschaft weisen. Die Frage ist nur, ob das eine lebenswerte Gesellschaft ist. Susan Sontag hat vor vielen Jahren geschrieben: „Es ist kein wünschenswertes Ziel, dass die Medizin ‚total‘ sei, ebenso wenig wie der Krieg.“ Wir aber sind auf dem Weg in das Zeitalter der totalen Medizin. In diesem unbekannten Land, dem wir uns nähern, könnten die seelischen, die sozialen und die wirtschaftlichen Verwüstungen auf Dauer tatsächlich mit denen des Krieges mithalten.

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