„Der Hype war nicht normal“

Interview Martin Schulz spricht mit Jakob Augstein über seine Fehler und das Leben als einfacher Abgeordneter
Ausgabe 16/2019
„Rede einfach weiter wie der Junge aus Würselen“, empfahlen ihm die einen. Er hat dann auf die anderen gehört
„Rede einfach weiter wie der Junge aus Würselen“, empfahlen ihm die einen. Er hat dann auf die anderen gehört

Foto: Marc Beckmann für der Freitag

Im Februar 2017 schrieb der Freitag auf Seite eins über den Kanzlerkandidaten Martin Schulz und dessen mutmaßliches Abrücken von der Agenda 2010: „Die Häme gegenüber der SPD weicht. Und den Marktradikalen geht die Muffe.“ Welch ein Irrtum! Doch es war eben die Zeit, in der die SPD fast gleichauf mit der Union lag, Tausende in sie eintraten und Martin Schulz als Kanzler durchaus vorstellbar war.

Jakob Augstein: Herr Schulz, was ist denn eigentlich mit dem Schulz-Hype passiert?

Martin Schulz: Der war ein Fake, von der ersten Minute an. In zehn Tagen von 19 auf 27 Prozent zu springen – ist doch anormal. Auf dem Parteitag mit 100 Prozent gewählt zu werden – ich habe damals zu einem meiner engsten Mitarbeiter gesagt: Das kann doch nicht sein, mich haben Leute gewählt, von denen ich weiß, dass sie mich auf den Mond wünschen.

Sie hatten die falschen Berater, oder?

Es gab da zwei Gruppen. Die einen sagten: „Rede einfach weiter wie der Junge aus Würselen, der die Alltagssorgen der Leute versteht, weil er selbst das Leben nicht nur mit dem goldenen Löffel im Mund erlebt hat.“ Die anderen sagten: „Nee, du musst die Strömungen der Partei zusammenhalten und jetzt ein differenziertes Programm vorlegen.“ Gerade hier in Berlin hatten ja Journalisten nach vier, fünf Wochen angefangen zu sagen: „Der Mann muss jetzt aber mal konkret werden!“ Mein erster Fehler war, mich darauf einzulassen und zu denken, ich müsste deren fein ziselierte Anforderungen bis zum letzten Spiegelstrich erfüllen. Mein zweiter großer Fehler war, dass ich das Thema Europa nicht in den Mittelpunkt gestellt habe.

Nach einem Absturz, wie Sie ihn erlebt haben, würden viele Leute Zyniker werden oder aussteigen.

Ach, mir geht ja dieser Satz „Er ist jetzt nur noch einfacher Abgeordneter“ gewaltig auf den Senkel. Was für eine Verachtung für Parlamentarier da zum Ausdruck kommt! Die meisten einfachen Abgeordneten machen einen ordentlichen Job. Ich selbst hatte ja im Koalitionsvertrag das Kapitel zur Europapolitik maßgeblich mitverfasst. Ich glaube nach wie vor, dass es – wenn wir es mit den Franzosen gemeinsam umsetzen – Europa reanimieren kann. Darum wollte ich Außenminister werden. Jetzt habe ich als einfacher Abgeordneter die Chance, daran mitzuwirken, dass vor allem dieses Kapitel endlich umgesetzt wird.

Warum fällt es so schwer, all den negativen Emotionen, mit denen der Rechtspopulismus arbeitet, positive entgegenzusetzen, einen positiven Populismus, auch für Europa, zu entwickeln, die Leute dafür zu begeistern?

Es stimmt. Die Linke hat Probleme mit Emotionen.

Aber Sie selbst sind doch ein ganz emotionaler Typ.

Die Linke insgesamt ist häufig verkopft, während die Rechte auf den Bauch der Menschen zielt. Du musst manchmal den Mut haben, auf einen groben Klotz einen groben Keil zu setzen; meine Rede gegen Alexander Gauland im Bundestag zum Beispiel, da habe ich zwei Sätze gesagt, der erste: „Die Reduzierung komplexer politischer Sachverhalte auf ein einziges Thema, in der Regel bezogen auf eine Minderheit im Land, ist ein tradiertes Mittel des Faschismus.“

Und?

Und dann habe ich hinzugefügt: „Eine Menge an Vogelschissen ist ein Misthaufen und auf den gehören Sie, Herr Gauland.“ In Berlin gab es für den ersten Satz Standing Ovations, der war Gold wert, aber der zweite war igitt, gerade Journalisten sagten: So geht das doch nicht! Zu Hause in Würselen aber haben die Leute den ersten Satz gar nicht registriert. Für den zweiten haben sie mir auf die Schulter geklopft und gesagt: „Endlich sagt diesem Armleuchter mal einer die Meinung!“ Die Linke tut sich schwer, so zu reden, wie die Leute reden, die uns früher in großen Teilen gewählt haben. Eine Zeit lang hatte ich mir das auch abgewöhnt, aber Sie merken: Ich habe es mir wieder angewöhnt.

Zur Person

Martin Schulz, 63, war vor seiner Polit-Karriere Buchhändler in Würselen, NRW. Dort wurde er 1987 Bürgermeister, zog 1994 ins EU-Parlament ein und wurde 2012 dessen Präsident. Seit 2017 ist er Abgeordneter des Deutschen Bundestages

Sie haben vorhin selbstkritisch gesagt, dass Sie nicht über Europa geredet haben im Wahlkampf. Kann man Europa den Deutschen vielleicht gar nicht zumuten?

Doch, die überwältigende Mehrheit bekommt man auf einen pro-europäischen Kurs, davon bin ich überzeugt.

Emmanuel Macron hat seinen Wahlkampf in Frankreich ja pro-europäisch geführt – und er hat gewonnen.

Ja, und vor Kurzem hat er in 28 Zeitungen in 28 Ländern einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Leute aufgefordert hat, in allen Ländern anzufangen, über Europas Zukunft zu diskutieren.

Was übrigens ein irrer Zug ist, faszinierend: Der Präsident eines europäischen Staates wendet sich an die Wähler all dieser Länder, um eine europäische Öffentlichkeit zu erzeugen!

Ja, und er schreibt dabei von einer europäischen Souveränität! Sie wissen, wie identitätsstiftend der Begriff der Souveraineté nationale für das französische Selbstbewusstsein und die Unabhängigkeit der Republik ist. Und jetzt haben Sie da den Präsidenten eines atomgerüsteten, permanenten Mitglieds des UN-Sicherheitsrates, G7-Staat, drittgrößte Volkswirtschaft Europas, der sagt, dass er in dem Zeitalter, in dem die Geschicke der Welt in Washington und in Peking entschieden werden, nicht mehr in der Lage ist, die Souveränität seines Landes zu wahren, und dass das den Deutschen genauso geht. Wir werden unsere Wertegemeinschaft nur verteidigen können, wenn wir unsere ökonomische und politische Kraft so bündeln, dass wir mit Trump und Xi Jinping auf gleicher Augenhöhe operieren.

In Deutschland hat diesen Artikel dann eine CDU-Vorsitzende beantwortet, indem sie einen Text voller Plattitüden in der Welt am Sonntag absetzen ließ. Das hat mich fassungslos gemacht.

Ich hatte bei Kramp-Karrenbauer ja gedacht: Immerhin ist das eine katholische Westdeutsche aus dem Grenzgebiet, wie Helmut Kohl, dem man ja das eine sicher nicht vorwerfen kann: dass er kein echter Europäer war.

Ich war auch überrascht. Frau Kramp-Karrenbauer hat als Ministerpräsidentin des Saarlands durchgesetzt, dass alle Schulen dort bilingual sein sollen, deutsch und französisch, tolle Sache. Und dann kommt so ein Artikel! Aber das erklärt sich nicht aus ihrer Herkunft. Mein Vater war Saarländer, ich kenne die proeuropäische Prägung dort sehr gut. Nein, Kramp-Karrenbauer musste damals Jens Spahns Leuten Konzessionen machen, um gegen Friedrich Merz zu gewinnen und CDU-Chefin zu werden. Die Rechtsschwenks, die sie signalisiert, etwa die plumpe anti-französische Nummer gegen den Sitz des EU-Parlaments in Straßburg, sind Konzessionen an diese rechten Hardliner in der CDU.

Was glauben Sie, wie wird sich die CDU positionieren?

Frau Kramp-Karrenbauer weiß noch nicht genau, wo sie hinwill und wo sie hinkann. Frau Merkels Ziel ist es, bis 2021 zu regieren, weil sie weiß: Mit jedem Schwenk Kramp-Karrenbauers nach rechts wird es für potenzielle Koalitionspartner wie die Grünen schwerer, einen Kanzlerinnenwechsel ohne Neuwahlen hinzukriegen.

Für die SPD steht ja Ende dieses Jahres ein Parteitag an, bei dem sie womöglich entscheiden wird, ob sie in der Großen Koalition bleiben möchte. Was ist Ihre Empfehlung?

Nicht nur zu überprüfen, wie weit wir gekommen sind, sondern auch, ob dieser Koalitionsvertrag reicht, um die Herausforderungen zu bewältigen, die seit Beginn der Wahlperiode entstanden sind. Die Revisionsklausel habe ich genau dafür in den Vertrag verhandelt.

Sie würden also keinen Bruch der Koalition anstreben?

Na, wir haben unseren Mitgliedern den Koalitionsvertrag ja nicht mit der Frage „Wollt ihr, dass wir nach jeder Landtagswahl die Diskussion führen, ob es richtig war, in diese Koalition einzutreten?“ vorgelegt, sondern gefragt: „Wollt ihr, dass wir in diese Koalition bis 2021 eintreten?“ Die Revisionsklausel gibt die Chance, zu überprüfen und anzupassen, wenn das mit dem Koalitionspartner machbar ist; wenn nicht, dann werden wir sehen, wo wir da hinkommen. Aber solange Angela Merkel Kanzlerin ist, gebe ich der SPD den guten Rat, Forderungen zu stellen. Die werden erfüllt werden.

Info

Das Interview fand im Rahmen des „radioeins & Freitag Salon“ am 25. März 2019 in der Volksbühne Berlin statt

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