Halb so wild, sagt die dänische Autorin und Kunstfigur, als sie im Schauspielhaus Köln für die Gesprächsreihe „Unter vier Augen“ mit Jakob Augstein über verschiedene Identitäten redet.
der Freitag: Madame Nielsen, Sie erblickten im Jahr 2013 das Licht der Welt. Vor mir sitzt aber eine elegante Dame, die deutlich älter aussieht als fünf Jahre.
Madame Nielsen: Ach, finden Sie?
Ehrlich gesagt, ja. Ich habe gelesen, dass Sie das Wort Performance-Artist nicht so mögen – also sagen wir mal Experimentalkünstlerin. Auch nicht?
Was kommt als nächstes: Multi-Künstlerin?
Darf ich sagen, dass Identitäten Ihr Thema sind?
In meinem Buch Endloser Sommer geht es auch um Schicksal und Liebe und Zeit. Erinnerung. Aber Identität spielt eine große Rolle.
Was ist das eigentlich?
Weiß ich leider auch nicht. Darum bin ich auch aus diesem Identitätsspiel ausgestiegen. Es bringt nur Probleme, wenn man man selbst werden soll. Religiöse, nationale, ethnische und Geschlechtsidentitäten: Das führt nur zu Krieg.
Sie haben gesagt, es sei nichts Gutes, wenn man man selber wird. Aber ist das nicht die Lebensaufgabe – man selbst zu werden?
Hört sich gut an, aber auch ziemlich abstrakt. Was heißt das – man selbst zu sein? Ich jedenfalls bin sicher nicht ich selbst.
Wenn man sich von der Idee der Identität abwendet und nie weiß, wer man morgen sein wird und gestern war, dann wird es schwierig für die Mitmenschen, oder?
Ja. Früher habe ich sehr radikal versucht, mich von allen Identitäten zu befreien, um zu sehen, wer man ist, wenn man niemand ist, oder etwas Ungewisses. Es war einige Jahre sehr interessant. Ich war ein Mann, dann wurde ich der Namenlose, dann der Unbestimmte.
Wer war Claus Beck-Nielsen?
Das war ein junger Mann. Das war auch ein Kind. Aber das war kein Neugeborener. Ein Neugeborener wurde nach einigen Monaten Claus Beck-Nielsen getauft. Der wuchs auf und zog immer wieder mit seiner Familie um, weil seine Eltern ihn zu früh bekommen hatten und noch nicht mit ihrer Ausbildung fertig waren. Der Vater musste noch Militärdienst machen. Und dann ging er an viele Schulen. War immer der oder die Neue. Weil er so hübsch, zärtlich, feminin war/bin, und meine Mutter die Beatles und ihre Frisuren mochte, glaubten die Jungs an jeder neuen Schule nie, dass ich ein Junge war, bevor sie ihn (vom Lehrer gezwungen) nackt nach der Turnstunde im Bad gesehen haben. Und dann hat er die Schule beendet, war einige Jahre Rockmusiker, wollte Schauspieler werden, hat Ausbildungen angefangen, irgendwann ein Gedicht geschrieben. Da hatte er sein Debüt als Schriftsteller. Nach dem zweiten Buch habe ich ihn für tot erklärt.
Woran ist er denn gestorben?
An diesem Beschluss. Er ist an der Entscheidung gestorben. Aber ohne sich aufzuhängen und ohne Waffen. Das war nur ein formales, bürokratisches Vorgehen.
Aber Sie haben ihn umgebracht?
Das kann man sagen. Ich habe damals eigenhändig seinen Grabstein auf einem Friedhof in Kopenhagen aufgestellt. Dann war ich in den Medien. Weil man das nicht so oft tut: seinen eigenen Grabstein aufstellen und sich um den Garten darum kümmern.
Ein anwesender Pastor soll nicht so glücklich mit der Beerdigung gewesen sein. Weil er das Gefühl hatte, dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht. Er hat auf die Auferstehung von Claus Beck-Nielsen gehofft?
Nein, er war eigentlich froh und wollte gern mitmachen. Aber der Bischof hat ihm gesagt, Pastor Bock, wenn Sie das machen, dann sind Sie fertig in der dänischen protestantischen Kirche. Und dann hat der das trotzdem gemacht.
Ich darf Sie zitieren: „Ich habe dann später einmal das Kleid von der Mutter meines Sohnes angezogen und sah, dass ich als Frau besser aussah. Und jetzt bin ich eben eine Frau.“
Es ist die Wahrheit.
Fand die Mutter Ihres Sohnes auch, dass das gut aussah?
Sie sagt immer noch: „Nielsen, du siehst schön aus, aber ich mag dich doch mehr als Mann.“
Auf den Bildern, die ich von ihm gesehen habe, sieht Claus Beck-Nielsen ganz toll aus.
Er war ein Hübscher, Scheuer und er spielte Gitarre in einer Band. Wie eine der Figuren in meinem Roman. Die Mädchen mochten ihn, aber er war so scheu. Wenn sie zu ihm kamen, so wie man das bei Rockgitarristen getan hat – da hat er nur gelächelt. Und irgendwann wurde es zu viel für die Mädchen, und dann kam der Sänger oder der Trommler, der hatte inzwischen viel getrunken und sagte: Hey, Mädel, komm! Und er stand nur da. Wissen Sie, in der Generation meiner Eltern sind viele Männer ziemlich verbittert. Die Frauen gehen ins Theater, in den Lesekreis. Sie engagieren sich kulturell und mit UNESCO oder so. Aber die Männer werden oft bitter, sie erinnern sich nicht gut, sie schlafen nicht gut, und es tut im Rücken weh. Das ist nicht gut, vor allem, wenn man ein bisschen schmal ist. Deshalb auch bin ich lieber eine hübsche spindeldürre ältere Frau wie Karen Blixen, die zum Schluss nur von Champagner und Austern gelebt hat. Sie dagegen kochen ja wohl gern, und das sieht man auch.
Finden Sie, ich bin zu dick? Das ist Bodyshaming, darf man nicht.
Ich habe nichts angedeutet. Ich meinte, Sie haben einen schönen blauen Anzug.
Sind Sie eigentlich jetzt noch ein Mann?
Ich heiße Madame. Madame Nielsen. Ich bin Autorin aus Dänemark und eine Frau bis ans Ende meines Lebens. Ich lebe von Champagner und Austern.
Klingt schrecklich.
Mögen Sie keinen Champagner und Austern?
Weder das eine noch das andere. Haben Sie Transgender-Freunde? Sind Sie in einer LGBT-Szene unterwegs, als Aktivistin?
Nein, das wäre ja wieder Identität. Ich will nicht Teil irgendeiner Gruppe sein. Weder als LGBT noch als Dänin.
Bis Ende des Jahres 2018 muss in Deutschland ein Gesetz für einen dritten Geschlechtseintrag gemacht werden. Dann steht im Personenstaatsregister nicht mehr nur Mann und Frau. Interessiert Sie das?
In einer Gesellschaft, in der man sehr gut isst, wo alle Veganer sein können, und alle plötzlich Glutenallergiker, kann man sich um so was kümmern. Wenn man in einem reichen Teil der Welt lebt, in der unsere schönen Handys aus China von Menschen produziert werden, die lieber ein bisschen besser wohnen möchten, als sich im dritten Geschlecht zu befinden.
Das hätte auch mein Freund Jan Fleischhauer so gesagt.
Den kenne ich nicht.
In Deutschland streiten die Linken darüber, ob sie sich genug um die soziale Gerechtigkeit gekümmert haben, oder zu viel um Identitätsfragen. Ist Ihnen das alles zu konkret?
Ich bin keine politische Kommentatorin. Ich möchte wie ein Komet durch diese Geschlechts- oder Kränkungsdebatte schweifen, ohne dass ich eine Position verteidigen muss. Ich möchte nicht zeittypisch werden.
Paradies, Monster, Schwarze Madonna
20 Jahre lang habe sie die Geschichte mit sich herum-getragen, sagt Madame Nielsen, bis sie den richtigen Ton fand. In ihrem Roman Der endlose Sommer (KiWi, 2018) beschreibt die Autorin und Übersetzerin den paradiesischen Sommer einer Gruppe junger Menschen auf einem Gutshof in Jütland, erzählt von Begehren, Rebellion und Identität, von sozialer Utopie, der Verschmelzung von weiblichen und männlichen Kategorien. Von der Liebe, aber auch vom Sterben an Aids. 1963 als Claus Beck-Nielsen im jütländi schen Aalborg geboren, entschied sich Madame Nielsen 2013 endgültig für das Leben als Frau und somit auch einen neuen Namen.
Da lagen schmerzhafte Phasen hinter ihr (unter anderem ohne Pass und Geld obdachlos am Kopenhagener Bahnhof). In Dänemark ist sie schon länger als Künstlerin bekannt für Theaterarbeiten, Performances. Sie sang in den Achtzigern an der Gitarre in der Band Creme X-treme und heute im Duo Nielsen Sisters. Anfang 2018 erschien ihr drittes Album Mum & Dad, und ihr Solostück White Nigger/Black Madonna wurde in Kopenhagen uraufgeführt. Für dessen Plakate hat sich Madame Nielsen schwarz angemalt, wies aber den Vorwurf des Blackfacing zurück – das sei ein Klischee. Im August hatte ihr Projekt mit fünf europäischen Theatern über die Zeugnisse von Geflüchteten in Stockholm Premiere.
Im Herbst erschien ihr Roman The Monster. Madame Nielsen hat eine 19-jährige Tochter und einen 8-jährigen Sohn.
Aber Sie haben sich unter dem Vorwand eines Theaterprojekts mit den Identitären getroffen, der aus Österreich stammenden Bewegung von jungen, schicken Leuten mit straffen Frisuren.
Es war eine Zusammenarbeit zwischen Nationaltheatern in Barcelona, Belgrad, Schweden und Kopenhagen. Ich war vorher viel in diesen Ländern unterwegs und habe mich mit sehr national gestimmten Menschen getroffen. Ich weiß nicht, ob sie Nationalisten waren.
Sie haben Marc Jongen getroffen, einen rechten Vordenker, der im Bundestag sitzt. Wie war das?
Jongen war eher poetisch-abstrakt, während das, was die zwei Identitären wollten, sehr konkret war.
Die träumen von einer kleinstädtischen, typisch deutschen Idylle. Mit Bäcker und einem Apotheker.
Und einmal pro Woche gemeinsames Singen im Gemeindehaus.
Finden Sie das doof?
Nein, ich mag es auch, auf dem Land zu sein. Das ist sehr romantisch, so ganz konkret nostalgisch. Man träumt davon, dass es schön wäre, auf dem Lande zu wohnen.
So wie in Ihrem Roman vom endlosen Sommer? Ich bin gemein.
Ah, so ist das also, wenn Sie gemein sind?
Nein, im Ernst, Ihr Buch beschreibt auch eine Vision des gemeinschaftlichen Lebens. Ich finde, man packt die Identitären nicht damit, dass man ihnen diese Vision vorwirft. Man muss schon an den politischen Gehalt gehen: das Nationalsozialistische in diesem Gedankengut, die Ablehnung des Fremden und des Schwachen. Das kam mir in Ihrer Auseinandersetzung zu kurz.
Ich habe in meinem Treffen mit Jongen und den Identitären nur nach den Visionen gefragt. Ich wollte genau nicht das hören, was sie immer sagen. Ich weiß, dass diese Leute böse Träume haben. Aber darum ging es mir nicht. Ich habe gefragt, sie haben geantwortet, und ich habe zugehört. Ich finde es wichtig, dass man allen möglichen Menschen zuhört, und besonders denen, die nicht so denken wie man selbst. Denn diese Menschen sind ja geradezu besessen von Identität.
Sie beschreiben Jongen wie eine Romanfigur, einen Mann, der sich in seine Idee von einem geheimen Deutschland hineinfantasiert. Und der plötzlich aus diesen Träumen gerissen wird – von der Bedienung, die ihn fragt, ob er noch einen Kaffee möchte.
So sind die Menschen. Sie sind ja grundsätzlich komisch. Auch Sie, auch ich.
Dass Sie jemanden wie Jongen so beschreiben, ist für viele Leute ein Problem: Darf man mit den Rechten reden? Das Böse wird menschlich, allein dadurch, dass man ihm die Gelegenheit gibt, zu sprechen.
Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich möchte nicht, dass sich in den schönen, großen Städten der westlichen Welt nur Menschen treffen, die alle so reden wie ich. Ich will allen Menschen zuhören. Das heißt nicht, dass ich naiv bin. Ich habe vielleicht mehr Vertrauen in die Leser als andere. Sie können begreifen, dass ich Jongen zugehört habe, aber nicht notwendigerweise der gleichen Meinung bin wie er.
Warum endet Ihr Buch so traurig?
Ich weiß es nicht. Es ist traurig, dass man stirbt. Und es ist traurig, dass die Liebe endet, ohne dass man es will. Wenn die Bezauberung, das Wunderliche nicht für immer da ist, wenn es Alltag wird und die Schmerzen kommen oder das Licht ausgeht, wird es dunkel, neblig oder kalt. Man ist einsam.
Am Anfang des Buches heißt es, das Leben sei ein Traum – aus dem man nie erwacht und der eines Tages doch plötzlich vorbei ist. Aber am Ende heißt es: Nicht das Leben ist ein Traum, die Sprache ist es, die Erzählung.
Das ist das Schöne an Romanen. Das Schöne daran, einen Roman zu schreiben, ist die Möglichkeit, das Leben so darzustellen, wie man es vielleicht fühlt und wie es vielleicht wahrhaftig ist, also voll von Widersprüchen. Denn beide Sätze sind wahr. Obwohl sie einander ausschließen. Deshalb kann man sehr romantisch sein. Mein Roman ist sehr weit entfernt vom Politischen, glaube ich. Er handelt nicht von der Weltgeschichte. Sondern vom Rande.
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