Deutschland hat einen neuen Staatsfeind Nummer eins: den Linksterroristen. Aktivist oder Randalierer, selbst Gewalttäter genügt nicht. Es muss schon der Linksterrorist sein. Der Linksterrorist konnte Hamburg in Schutt und Asche legen, so geht das neue Narrativ weiter, weil sich Politik und Öffentlichkeit in der Vergangenheit viel zu sehr auf die rechte Gewalt konzentriert hätten. Nun aber, nach dem G20-Gipfel, wird dringend ein Kurswechsel verlangt.
Es ist verblüffend, mit welcher Geschwindigkeit sich diese neue Erzählung verbreitet und wie freudig sie aufgenommen wird. Es muss eine Menge Leute da draußen schwer genervt haben, dass es immer die Rechten sind, die wegen ihrer Gewalt am Pranger stehen. So, als würden die sogenannten bürgerlichen Journalisten und Politiker sich für neue Nazis irgendwie zuständig fühlen, oder von deren Taten besonders kompromittiert.
Wer nun unbedingt rechte mit linker Gewalt vergleichen will, muss zur Kenntnis nehmen, dass seit 1990 in Deutschland – je nach Quelle – zwischen 80 und 180 Menschen durch rechte Gewalt den Tod fanden. Über Todesopfer linker Gewalt gibt es in diesem Zeitraum keine Informationen. Das liegt vermutlich unter anderem daran, dass sich rechte Gewalttäter vor allem Schwächere als Opfer suchen – Migranten, Obdachlose, Behinderte. Während der linke Randalierer sich vorzugsweise mit hochgerüsteten Polizisten anlegt, die sich ganz gut zu verteidigen wissen.
Sind diese Überlegungen schon eine Verharmlosung der linken Gewalt während des G20-Gipfels in Hamburg? Man muss da heute vorsichtig sein. Man landet schnell im Sympathisantensack – wie damals, als die Bundesrepublik wirklich mit Terroristen zu tun hatte, die sich für links erklärten. Der G20-Gipfel hat die Gewaltfrage aufs Tapet gebracht. Dass Gewalt falsch sei, darauf können sich schnell alle einigen. Aber die spannende Debatte beginnt erst danach. Was ist eigentlich Gewalt? Wer ist ihr Opfer?
Da wird der Demonstrant, der zum Steinewerfer wurde, eine andere Meinung haben als der Polizist, den seine Oberen in die erste Reihe gestellt haben, und diese beiden wieder eine andere als die Politiker, die sich im Wahlkampf befinden – oder die Bürger, deren Stadt geopfert wurde. Und zwar von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz. Sie sind dafür verantwortlich, dass mitten in einer Millionenstadt ein Gipfeltreffen abgehalten wurde, dessen unfriedlicher Verlauf von allen Experten lange im Voraus prophezeit worden war.
Die strafrechtliche Verantwortung jeder einzelnen Tat liegt beim Randalierer, Brandstifter, Steinewerfer, Körperverletzer – der dadurch zum Straftäter wird, aber noch nicht zum Terroristen. Aber die politische Verantwortung tragen andere. Angela Merkel wollte diesen Gipfel nach Deutschland holen, und sogar ausdrücklich nach Hamburg. Merkel hat damit die Gewalt nach Hamburg geholt.
Die G20 stehen für ein Weltmachtsystem, in dem acht Menschen ebenso viel besitzen wie 3,7 Milliarden. Diese Zahl ist der Inbegriff schierer Gewalt. Und auch der Gipfel selbst, der eine stolze, freie Stadt als Geisel nahm, war ein Akt der Gewalt. Hunderttausende von selbstbewussten Bürgern wurden zu Statisten einer quasi-monarchischen Show degradiert, die alle Werte konterkariert, die wir gerade im Zeitalter der Globalisierung hochhalten müssen.
Die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke twitterte: „Jede TV-Minute, die der Gewalt der Hooligans gewidmet wurde, war eine Minute, in der nicht die Beschlüsse der #G20 kritisiert werden konnten.“ Dabei ist gar nicht vorstellbar, dass friedliche Proteste gegen den Gipfel auch nur annähernd so viel Beachtung gefunden hätten wie die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Machen wir uns nichts vor: ein paar pflichtschuldige Bilder, ein paar wohlwollende Worte – das wäre es gewesen. Erst die Gewalt macht den Protest gegen G20 erwähnenswert. Denn auch wenn dieser Gedanke in der gegenwärtigen Aufwühlung wie ein Affront erscheint: Natürlich hat auch die Gewalt der Demonstranten eine politische Dimension. Und dabei kommt es nicht einmal darauf an, ob der gewaltbetrunkene Randalierer sich dessen selber bewusst ist.
Die Gewaltdemonstranten haben Autos angezündet. Das ist eine Straftat. Vorstellbar wäre noch der Hinweis, dass die Besitzer dieser Autos, die sich unschuldig und unbeteiligt wähnen, plötzlich daran erinnert werden, dass sie beides eben nicht sind – unschuldig und unbeteiligt. Denn das Auto, das eine Familie in Hamburg-Ottensen gekauft und bezahlt hat und das da am Wochenende angezündet wurde, ist selber kein wertneutraler Gegenstand, sondern ein politisches Objekt.
Es besteht aus Rohstoffen, die unter den Terms of Trade einer von den G20 beherrschten Welt gefördert und gehandelt wurden: Kupfer aus Chile, Bauxit aus Guinea oder Seltene Erden aus China – geschürft, transportiert, verarbeitet unter Bedingungen, die man mit gutem Gewissen weder den Menschen noch dem Planeten zumuten kann. Aber die Familie aus Ottensen hat kein schlechtes Gewissen. Wir alle haben kein schlechtes Gewissen.
Wir erkennen die Gewalt nicht, die wir selber ausüben. Nur die, die wir selber erfahren.
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