Die Trägheit der Havel macht mich verrückt

Der Gärtner und die Tiere Ein sehr langsamer Fluss lädt Jakob Augstein zum Sinnieren über mythische Wasserwesen ein
Ausgabe 22/2019
Ist der Havel-Gott ein alter, weißer Mann?
Ist der Havel-Gott ein alter, weißer Mann?

Foto: Imago Images/Werner Schulze

Mein Garten liegt am Fluss. Damit muss man erst mal fertigwerden: immerzu das Glitzernde, Strömende, Wellende direkt vor Augen. Obwohl es eigentlich nicht so sehr strömt bei mir. Die Havel ist nämlich ein ziemlich stiller Fluss. Das liegt daran, dass sie auf einer Länge von 334 Kilometern einen Höhenunterschied von nur 43 Metern wettmacht. Das ist wirklich nicht viel.

Es ist sogar so wenig, dass man an manchen Tagen den Eindruck hat, die Havel fließe rückwärts. Und das ist vielleicht für manche Dinge, die in Berlin geschehen, kein ganz schlechtes Bild. Aber das gehört nicht hierher.

Ein Fluss ist etwas ganz anderes als ein See. Der See ruht, ist dunkel, und an seinem Grund hausen die Nymphen, jene schönen, jungen und meistens splitternackten Mädchen, die Wiesen, Grotten und Berge bewachen, aber vor allem die Hüterinnen der Wälder, Seen, Bäche und Quellen sind.

Sie sind nicht böse. Aber unheimlich, unnahbar und nicht zu kontrollieren. Die Nymphen, heißt es, suchen sich ihre Liebespartner unter den Männern selbst. Die Flüsse haben auch ihre Götter. Sie sind weniger dunkel als die Nymphen, aber dafür wandelbarer, launischer. Die Menschen bringen den Flüssen Opfer dar. Manchmal streiten sie auch mit ihnen.

Als Xerxes eine Brücke über den Hellespont hatte bauen lassen, kam ein großer Sturm und zerstörte alles. Herodot schreibt: „Xerxes geriet darüber in einen großen Unwillen und befahl, dem Hellespont dreihundert Schläge mit einer Peitsche zu geben und ein Paar Fußeisen in das Meer zu versenken. Ich habe sogar gehört, daß er Leute mitgeschickt, welche den Hellespont brandmalen sollten. Das ist gewiß, daß er befohlen, denselben mit Fäusten zu schlagen und die tollen und abscheulichen Worte zu sagen: Du bitteres und salziges Wasser, der Herr legt dir diese Strafe auf, weil du ihm Schaden getan, da er dich doch auf keine Weise beleidigt hat. Doch wird der König Xerxes hinübergehen, du magst wollen oder nicht. Dir aber opfert billig kein Mensch, weil du ein betrüglicher und salziger Fluß bist.“

Ich kenne das Gefühl. Die Havel macht mich auch manchmal wahnsinnig. Ich versetze ihr dann keine Hiebe. Aber ich stehe manchmal an ihrem Ufer und beschimpfe sie wüst. Und zwar wegen ihrer Trägheit. Ich weiß nicht, ob die Havel einen Flussgott hat, der Bildhauer Johann Gottfried Schadow soll einen geschaffen haben. Hapi, der Gott des Nils, jedenfalls hatte den Körper eines Mannes, trug einen falschen Bart und hatte gleichzeitig große, hängende Brüste, weil seine Fluten das Leben brachten. Der Havel-Gott wäre wahrscheinlich ein alter, weißer Mann mit dickem Bauch, der auf dem Sofa sitzt und ein Bierchen trinkt.

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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