Liebe Leserin, lieber Leser, ausnahmsweise wende ich mich einmal direkt an Sie. Man macht das als Journalist eher selten, weil die direkte Ansprache das Illusionsspiel durchbricht, das der Journalismus ja ist. Der journalistische Text kommt immer wie in Erz gehauen daher. Ein allwissender Erzähler sagt, was ist, er ist der auktoriale Herrscher des Textes, ein unsichtbarer Patriarch, und der Leser eines solchen Textes schmiegt sich in seinen Schoß wie ein Kind, das lauscht. Ganz anders, wenn der Journalist auf einmal die Rolle verlässt, den Leser aus dessen Schlummer weckt und sich auf Augenhöhe mit ihm verständigen will. Der Journalist, die alte Kanaille, tut das nur, wenn es ihm selber nutzt. Dann setzt er sich auf einmal neben seinen Leser, blickt ihm treuherzig ins Auge und sagt: Ich bin ein Mensch wie Du!
Meistens ist dann etwas schiefgegangen, ein Fehler wurde entdeckt, ein Betrug ist aufgeflogen. Keine Sorge, das ist hier nicht der Fall. Hier wird etwas gefeiert. Und das sollte man gemeinsam tun und nicht von oben herab. Der neue Freitag wird zehn Jahre alt. Das ist für einen Baum keine lange Zeit oder für einen Stein. Für einen Journalisten ist es eine Ewigkeit, eine Epoche, eine Ära. Da kann man ruhig mal vom Katheder steigen und innehalten. Übrigens, zum Katheder kommen wir gleich noch.
Also, wir machen seit zehn Jahren diese Wochenzeitung, die Freitag heißt und am Donnerstag erscheint. Warum eigentlich?
Menschen sind es gewohnt, im Nachhinein einen Sinn in ihr Tun zu projizieren, den es vielleicht im Voraus noch gar nicht hatte. Daniel Kehlmann hat gesagt: „In einer gottlosen Welt passieren die Dinge aus Gründen, aber nicht zu einem Zweck.“ Dennoch würde ich für uns alle, die wir hier an dieser Zeitung arbeiten, in Anspruch nehmen, dass wir nicht aus Zufall vor zehn Jahren mit dieser Arbeit begonnen haben, sondern aus einer inneren und äußeren Notwendigkeit heraus.
Vorurteile auf dem Vormarsch
Es handelt sich da nicht um irgendein beliebiges Jahrzehnt. Sondern um eine Epoche, in der sich das Antlitz unserer Gesellschaft so drastisch verändert hat wie kaum je seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Westen und seine Werte sind kompromittiert und geschwächt. Die Sozialdemokratie ist beinahe ausgelöscht. Der Sozialstaat steckt in seiner tiefsten Krise. Gleichzeitig hat die dramatische Ungerechtigkeit immer weiter zugenommen, mit der Reichtum und Chancen verteilt sind. Die Vernunft ist auf dem Rückzug, und mit ihr die Überzeugung, dass gemeinsame Probleme auch nur gemeinsam zu lösen sind. Die Lüge triumphiert und das Vorurteil.
Uns hier am Hegelplatz fehlte offensichtlich die Macht, diese Entwicklung zu verhindern. Das ist bedauerlich. Aber es ist doch beruhigend, dass wir das Kommende immerhin so weit vorausahnen konnten, dass wir uns vor zehn Jahren auf den Weg gemacht haben, ausgerechnet eine linke Zeitung zu machen. Denn wenn eine solche Zeitung schon kein Bollwerk gegen den aufwallenden Wahnsinn des Egoismus, des Nationalismus, ja, des Faschismus sein kann, so kann sie doch ein kleiner Fels in der Brandung sein, ein Halt in einem anschwellenden Strom von Bosheit, Faulheit, Dummheit. Wenn die Dinge da draußen im Lot wären, bräuchte es uns nicht.
Also ein Fels in der Brandung will der Freitag sein? Schon dieser Anspruch wäre der reine Hochmut, wenn wir ihn uns allein zugemutet hätten. Haben wir aber nicht. Wir haben auch auf Sie gezählt, liebe Leserinnen und Leser. Eben fiel das Wort „Katheder”. So funktionierte der Journalismus früher – von oben herab. Damit haben wir Schluss gemacht. Als erste Zeitung in Deutschland haben wir vor zehn Jahren damit begonnen, die Leser zum Teil der Redaktion zu machen. Die besten Ideen klaut man – und diese stammte aus England, vom Guardian, mit dem wir von Anfang an eine enge Kooperation hatten (siehe S. 31). Alan Rusbridger, der einflussreiche und wegweisende frühere Chefredakteur des Guardian, sprach damals von „Mutualization“ – also von der „Verwechselseitigung“ des Medienproduktes: Leser und Redakteure arbeiten gemeinsam an der Verbesserung ihrer Zeitung, ihrer Internetseite, ihres Mediums.
Man sieht gleich: Diese Idee stammt aus einer Zeit des digitalen Optimismus. Heute wird das Netz vor allem als Ort der Entgrenzung und des Hasses wahrgenommen (siehe Gespräch S. 28/29). Aber es ist mehr als das. Auch wir haben einige blumige Illusionen über den neuen Bürgerjournalismus hinter uns gelassen (siehe S. 30). Aber nicht die feste Überzeugung, dass es ein Fortschritt war, die hermetische Schranke zwischen Lesern und Redaktion aufgehoben zu haben. Wenn die Community, die Gemeinschaft unserer Leser, mit uns über unseren Freitag streitet, macht sie uns ein Geschenk. Denn sobald jemand Zeit in eine Sache hineinsteckt, muss sie etwas wert sein. Lebenszeit ist das Einzige, was Menschen haben.
Dafür sind wir dankbar. Mit Lesern wie Ihnen müssen wir weiter um Sinn und Zweck des linken Journalismus ringen. Denn wir sind ja keine Dokumentare. Unser Auftrag beschränkt sich nicht darin, zu sagen, was ist. Allerdings muss man sagen, schon das ist nicht einfach und fällt vielen Kollegen nicht leicht – einfach, weil sie nicht wissen wollen, wie manche Dinge liegen. Aber wir hier am Hegelplatz, wir wüssten schon auch noch gerne, was sein kann, was sein soll, was nicht sein darf. Denn wir glauben, dass es die Aufgabe von Journalisten ist, die Wirklichkeit nicht als notwendig zu betrachten, sondern als veränderbar, jederzeit, in jeder Hinsicht.
Ihr Jakob Augstein
Kommentare 12
Gratulation und Glückwunsch den Machern des Freitag. Selbstverständlich eine Menge Respekt und Dank für guten Journalismus. Wo große Redaktionen in diesem Land vernachlässigen, missachten oder verdrehen, sich in Selbstherrlichkeit laben, schaut der Freitag hin und drauf. Die Medienlandschaft in diesem Land wäre eine noch trostlosere Veranstaltung, gäbe es den Freitag nicht. Also bitte weiter so, nicht unterkriegen lassen. Der Freitag als eine Art Steinschleuder in der Hand eines David. So mancher Goliath sollte sich nicht zu sicher sein, wenn er sich Staat, Menschen, Demokratie und Wirtschaft zu Beute macht, der Freitag könnte „geflogen“ kommen. (Ein bisschen Träumerei muss bitte erlaubt sein...)
Jakob Augstein hat in seinem Beitrag einen Edlen des Journalistenberufes erwähnt, Alan Rusbridger. Dessen Buch :PLAY IT AGAIN: möchte ich hier empfehlen. Wer was für anständigen Journalismus und für klassische Musik oder nur für einen phantastischen Menschen übrig hat, der ist auf diesen Seiten gut aufgehoben. So gut aufgehoben, wie stets auf den Seiten des Freitag.
Peter Scholl-Latour: “Wir leben in einem Zeitalter der Massenverblödung, besonders der medialen Massenverblödung.“ Hier wird noch im Freitag gegengesteuert! Das kann man nicht hoch genug würdigen! Herzlichen Glückwunsch auch von mir!
Glückwunsch
und Dank mit dem Wunsch, dass sich viele vernunftbegabte kritische LeserInnen überzeugend "vermehren". Ein gelungenes WEITER SO!
Ohne Schnörkel: Die Menschenachtung ist der Humanismus.
Menschenverachtung ist der Faschismus, der in KZ' endet, aber sehr viel früher beginnt. Der tiefste Punkt der Unvernunft.(marktkonforme Demokratie)
Dagegen zu schreiben ist ein hohes Gut, das im Freitag gepflegt wird.
Danke.
Herzlichen Glückwunsch und weiterhin alles Beste !
"Mit Lesern wie Ihnen müssen wir weiter um Sinn und Zweck des linken Journalismus ringen."
Oh, vielen Dank. Sehr gerne. Linker Höhepunkt war für mich die große Feier zur gesetzlichen Gleichstellung Homosexueller. Das war schön. Platz 2 und 3 belegen die freiheitlich-demokratischen NutzerInnen-Beiträge "Mein Kopftuch, meine Freiheit!" und weinszteins Loblied auf die Machtergreifung Erdogans. Platz 4 teilen sich alle kritisch-analytischen Sachtexte Kooperationspartner Russland betreffend. Und am fünftbesten gefallen mir mein eigener Beitrag "Party machen" und alles von Elsa Koester.
In einem Land wo die Menschenwürde das wichtigste Gesetz darstellt, muss es Menschen geben, die die Einhaltung dieses Gesetzes prüfen und kontrollieren.
Wer, wenn nicht Journalisten?
Ist alles OK in unserem Land, sind alle glücklich?14 Millionen gelten hierzulande als arm.
Flaschensammler sind ein Bild des Alltags. Immer wieder wühlen im Mühl Menschen nach Essensresten. Arbeitslose Menschen werden sanktioniert. Etwa 1 Million wohnungslosen Menschen gibt es in einem Land mit der humanitärsten Verfassung weltweit. Flüchtlinge werden abgeschoben in Zahlen, um Herrn Seehofer Geburtstagsgeschenk zu machen. Das sind, nebenbei gesagt, Mafia Methoden. Rassisten und Faschisten werden als besorgte Bürger verharmlost. Einige männlichen Politiker sehen so aus, als würden sie nie im Leben gewusst und gespürt haben, was Hungersnot ist
.Jemand muss darüber schreiben!
Wer, wenn nicht Freitag?!
Oft sprechen Menschen zu mir.
Eine Frau mit Migrationshintergrund sprach mich in einer U-Bahn an, nachdem ich ihr 20 Cent gab. „Wissen Sie, wie viel Müll ich in den Bahnen durchwühlen muss, bis ich etwas essenswertes zum Essen finde?!“
Eines Tages setzt sich neben mir in einer Bahn ein obdachlöser Mensch auf den Boden und spricht zu Migranten: „Ich habe nichts dagegen, dass Sie hier sind… Ich möchte nur, dass es jemanden gibt, der für uns alle seinen Mund aufmacht und gegen die Ungerechtigkeit vorgeht…“
Eine Frau sagte, dass sie sich freut, wenn deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielt. Denn dann kann sie viele Flaschen am Brandenburger Tor sammeln.
Ich weis, wie es ist, wegen der Hungersnot, in Ohnmacht zu fallen.
Freitag, schreib weiter für die Gerechtigkeit und Wahrheit!
Großes Lob, auf jeden Fall. Zitat: "Denn wir glauben, dass es die Aufgabe von Journalisten ist, die Wirklichkeit nicht als notwendig zu betrachten, sondern als veränderbar, jederzeit, in jeder Hinsicht." Das ist nicht nur Aufgabe von Journalisten (klar auch und besonders), sondern eines jeden humanistisch denkenden Menschen. Wenn wir nicht an die Veränderbarkeit dieser! Gesellschaft glauben, zumindest auf sie hoffen, und für sie arbeiten, finden wir uns ab mit Egozentrismus, Nationalismus, Ausbeutung, Ausgrenzung, Faschísmus,... Also an die Arbeit liebe Journalisten und Leser des Freitag.
Übrigens gute Ideen klaut man nicht, man übernimmt sie im Sinne der guten Sache und führt sie ggfs. ein in den Diskurs. Alles was der Diskurshegemonie linker Vorstellungen dient, ist erlaubt.
Darf ich mir eine kleine Korrektur erlauben, Herr Augstein? In Stein wird gemeißelt, von mir aus auch gehauen, in Eisen wird gegossen,... in Erz wird, glaube ich, nix gemacht. Erz wird geschmolzen.
Danke, ich hab ihn heute aus der Post geholt, er wird mir die Woche verbessern.
Es ist gut, dass es den "freitag" gibt. Immerhin bietet er einem beachtlichen Teil von Zeitungslesern/-innen eine zu ihren politischen Sympathien passende Unterkunft. - In seinem Artikel singt J. Augstein ein Loblied auf die Verbundenheit von Journalisten/-innen und der “Community”, aus der seines Erachtens immer wieder eine gegenseitige Befruchtung und damit auch eine Abkehr vom traditionellen Katheder-Journalismus (wir erklären was ist) erwächst. - Frage: Ist das ein Geschäftsmodell? Kommt man seiner Leserschaft möglichst weit entgegen, um sie bei der Stange zu halten? Steckt dahinter also vorwiegend marktwirtschaftliches Kalkül? - Oder baut man auf diese Weise eine Echokammer auf, in der sich schleichend eine Gemeinschaft Gleichgesinnter entwickelt, die zunehmend den Blick für die Komplexität des realen Geschehens außerhalb der Kammer und damit ihre Urteilsfähigkeit verliert? - Aber nein! Das wäre dann doch wohl ein Zuviel des Wassers im Jubiläumswein. - Also wie auch immer: Herzlichen Glückwunsch!
Liebe Community-Mitglieder, liebe Redaktion, lieber Freitag,
Gratulation für das 10-jährige Bemühen um Durchblick. Gerne besuche ich diese Zeitung und freue mich über den höflichen Umgang und den Respekt - auch vor Andersdenkenden.
Auf ein langes Leben!
Euer AndyC
Ich bin seinerzeit nahtlos vom Sonntag zum Freitag migriert. Das Blatt begleitet mich also schon mein halbes Leben und ist gewissermaßen meine publizistische Heimat.
Danke dafür und Glückwunsch allen beteiligten Akteuren. Besonders Augstein für sein persönliches Engagement.
Weiter so!
Guten Tag Jacob Augstein,
eigentlich haben Sie doch gar keinen Grund pessimistisch zu sein und zu der Annahme zu gelangen, dass Ihnen am Hegelplatz 1 angeblich die Macht fehlen soll, außer Kontrolle geratene Entwicklungen in unseren Gesellschaften aufzuhalten. Ich habe mal davon gehört, dass das Wort die gefährlichste Waffe gegen bestehende Machtverhältnisse sein soll. Ihnen stehen also auch weiterhin alle nur denkbaren Möglichkeiten offen.
Ihre letzte Sendung Augstein und Blohme (Wo bleibt die Friedensbewegung?), war mal wieder brilliant. Eine kleine Frau aus Schweden hat mit ihren Worten ebenfalls einen Stein in den öffentlichen Debattenraum geworfen und die "Freitags-Streiks" der Schülerinnen ins Leben gerufen. Warum soll es nicht auch "Freitags-Streiks" der Eltern oder einen "Freitags-Generalstreik" geben?, solange bis das gegen die Wand beten und reden ein Ende hat.
Für all das was ich hier seit 12 Monaten bei "der Freitag" schreiben und veröffentlichen konnte bin ich nach 2 Monaten aus dem Zuckerwatteland geflogen, herzlichen Dank dafür.
Alles Gute für Sie und bleiben Sie gesund, manchmal dauern die Dinge eben etwas länger, hat mir mal ein alter Mann aus Jerusalem vor 25 Jahren in einem winzigen kleinen Theater in Saarbrücken ins Ohr geflüstert. In diesem Sinn, Mir, Shalom, Paix, Frieden, Peace & Love.
Ja, top. Glückwunsch ....auch danke für Anregungen...........weitermachen! wird immer schwerer.