Dass Jakob Augsteins Lieblingsfigur aus Kehlmanns Roman der Graf Wolkenstein ist, hat dem Schriftsteller gut gefallen, als sich die beiden neulich im Schauspiel Köln für die Gesprächsreihe „Unter vier Augen“ unterhalten haben ...
Jakob Augstein: Du hast einmal von dir gesagt, du seiest ein komischer Autor. Und es gibt in „Tyll“ tatsächlich komische Situationen. Aber eigentlich finde ich das Buch alles andere als komisch, sondern fast schwermütig. Bist du in Wahrheit ein melancholischer Autor?
Daniel Kehlmann: Ich versuche es nicht so rauszuhängen, aber bei dem, was ich schreibe, merkt man es dann doch immer wieder.
Wovon handelt „Tyll“?
Gute Frage. Vom Dreißigjährigen Krieg natürlich. Aber es ist kein Buch über den Dreißigjährigen Krieg. Martin Amis hat mal gesagt, das Wort „über“ sollte verboten werden, wenn man Romane beschreibt, eine sehr gute Bemerkung. Ein Roman ist nicht über etwas, sondern er spielt sich in etwas ab. Tyll handelt von verschiedenen Menschen in einem Augenblick, wo alles zusammenbricht an Zivilisation und Strukturen, die Sicherheit geben. Und angesichts der Zentralfigur Tyll handelt er davon, wie man als Künstler, was er im weitesten Sinn ist, in so einem Moment davonkommt.
Wenn man „Tyll“ liest, fallen einem sofort zwei literarische Verarbeitungen des Dreißigjährigen Krieges ein: der „Simplicissimus“ und Brechts „Mutter Courage“.
Ja. Mutter Courage ist meiner Meinung nach nicht nur das beste Stück, sondern vielleicht sogar das beste literarische Werk überhaupt zum Dreißigjährigen Krieg. Die Mutter Courage selber ist ja eine Figur von Grimmelshausen, der eben nicht nur den Simplicius Simplicissimus geschrieben hat, ein Buch, das natürlich auch für mich wichtig war, vor allem aus Recherchegründen. Aber für Tyll in seiner merkwürdig spöttischen Widerstandskraft war nun nicht der Simplicissimus das Vorbild, sondern eben die andere große Figur von Grimmelshausen, die „Landstörzerin Courasche“, wie sie bei ihm heißt. Und es gibt noch ein tolles Stück, das mich inspiriert hat
Nämlich?
Ein Bruderzwist im Hause Habsburg von Grillparzer. Das Faszinierende an diesem Stück ist, dass es in einem Moment geschrieben wurde, da der Dreißigjährige Krieg für das Publikum noch präsent war. Nicht mehr als Erlebnis, aber doch als etwas, worüber man ziemlich genau Bescheid wusste, so wie wir heute noch ganz gut über den Ersten Weltkrieg Bescheid wissen. Und Grillparzer siedelt das Stück eine ganze Weile vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges an. Es lebt von Vorausdeutungen. Es treten darin immer wieder Leute auf, die später in diesem Krieg eine Rolle spielen werden. Wenn ich Theaterdirektor wäre, würde ich sagen: ein Meisterwerk, aber nicht wirklich aufführbar leider, weil es ein nicht mehr vorhandenes Vorwissen verlangt.
Zur Person

© imago/Skata
Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren und wuchs in Wien auf. Mit seinem fünften Buch, Ich und Kaminski , wurde er bekannt, mit dem Roman Die Vermessung der Welt weltberühmt. Zahlreiche Preise. Tyll erschien 2017 bei Rowohlt
Mit dem Krieg assoziieren wir zuerst Grausamkeit. Die spielt im Buch zwar eine präsente, aber eher hintergründige Rolle. Wie an dieser Stelle: „Macht, was ihr wollt, hat der General gesagt, man schafft das nicht gleich, weißt du, man muss sich erst daran gewöhnen, dass man das wirklich darf, dass das geht: mit Menschen machen, was man will.“ Warum ist die Grausamkeit „nur“ der Hintergrund?
„Nur Hintergrund“ würde ich nicht sagen. Es gibt schon einige sehr brutale Stellen in Tyll. Das muss auch so sein, wenn man einen Kriegsroman schreibt. Aber dass die Grausamkeit dann wieder in den Hintergrund tritt, das hat nicht zuletzt den Grund, dass es Dinge gibt, die ich nicht schildern möchte und die trotzdem vorkommen müssen. Tylls Vater wird in meinem Roman gefoltert. J. M. Coetzee sagt in seinem Roman Elizabeth Costello, dass der Schriftsteller den Raum nicht betreten darf, in dem gefoltert oder auf die schlimmste Art getötet wird. Der Schriftsteller geht an die Tür dieses Raumes, sagt Coetzee, aber nicht weiter. Und weil ich daran gedacht habe, wird die Folterung von Tylls Vater bei mir aus der Sicht von Athanasius Kircher beschrieben, der als Schreiber vor dem Raum sitzt.
Fürchtest du dich vor einem Krieg?
Bis vor kürzester Zeit hätte ich noch gesagt, ich fürchte mich nicht, denn sicher ist doch, dass wir in unserem Leben nicht mehr in die Mitte einer kriegerischen Auseinandersetzung geraten werden. Ich glaube zwar immer noch, dass wir ganz gute Chancen haben, dass uns das nicht passiert, aber so sicher wie vor ein paar Jahren bin ich jetzt auch nicht mehr.
Das Buch hat mich deswegen so beeindruckt, weil es Menschen im Krieg zeigt und wir uns mit ihnen über diesen langen historischen Raum hinweg, der uns ja trennt, identifizieren können. Aber gleichzeitig fragt man sich: Warum lernen Menschen aus solchen Erfahrungen offensichtlich so wenig?
Das sehe ich anders. Es stimmt, obwohl es die großen Religionskriege des 16., 17. Jahrhunderts gegeben hat, gab es einen Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber es gab eben auch den Religionsfrieden. Die Feindseligkeit zwischen den christlichen Konfessionen ist im Großen und Ganzen beigelegt. Ich lebe zurzeit in Amerika: Wenn es Trump und seinen Spießgesellen nicht gelingen wird, eine Diktatur zu errichten, dann auch deswegen, weil von seinem Wahlsieg an viele Menschen gesagt haben: „Jetzt sollten wir uns doch genau die 1930er Jahre anschauen und aufpassen, dass so etwas hier nicht passiert!“
Ich bin noch aufgewachsen mit „Maikäfer, flieg“ – „Pommerland ist abgebrannt“, das scheint mir so etwas wie das letzte Echo im kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen zu sein, das der Dreißigjährige Krieg hinterlassen hat. Aber gibt es ein kollektives Unterbewusstsein überhaupt?
Wenn es so etwas wie das kollektive Unterbewusstsein gibt, dann hat der Dreißigjährige Krieg starke Spuren hinterlassen. So deute ich auf jeden Fall die extrem starken emotionalen Reaktionen, die ich auf diesen Roman bekommen habe. Man darf nicht vergessen: Der Dreißigjährige Krieg war nicht vorrangig geprägt durch große Feldschlachten. Die gab es zwar auch, die muss man auch schildern in einem Roman. Aber die tieferen Sedimente haben die Plünderungen hinterlassen. Die Bevölkerung war den plündernden Heeren vollkommen hilflos ausgesetzt. Diese Ausgesetztheit ist es, die die zeitgenössischen Schilderungen so furchtbar macht. Von ihr zeugen auch unsere Märchen.
Wie „Hänsel und Gretel“?
Genau. Dieses Märchen hat ja eine ganz merkwürdige Struktur, die einem gar nicht auffällt, wenn es einem als Kind erzählt wird. Es gibt einen Vater, es gibt eine Mutter, es gibt zu wenig zu essen, die Eltern können die Kinder nicht ernähren und sie schicken sie in den Wald. Eine sonderbare Maßnahme, wenn man seine Kinder nicht ernähren kann. Im Wald treffen sie eine böse Frau, eine Hexe. Die böse Frau will sie essen, die Kinder töten die böse Frau und werden dann von ihrem Vater aus dem Wald geholt. Und irgendwie heißt es dann ganz lapidar, die Mutter sei inzwischen gestorben. Die anderen können weiterleben, weil die Kinder von der Hexe Essen aus dem Lebkuchenhaus mitgenommen haben.
Es waren, glaube ich, Diamanten.
Diamanten, wirklich?
Ja, sie finden bei der Hexe ganz viele Edelsteine und kommen reich zurück.
Gut für sie. Also, der Hunger ist jedenfalls erledigt – aber die Mutter ist auch weg. Und man hat das Gefühl ... das ist nun keine These von mir, Michael Maar hat darüber ein wunderbares Buch mit dem Titel Hexengewisper geschrieben, man hat also das Gefühl, dass hier in Wirklichkeit etwas verhandelt wird, was zu schrecklich ist, um es auszuerzählen, nämlich dass Eltern in der Not ihre Kinder essen.
Gibt es eine historische Entfernung, die dir für einen Roman zu groß wäre? Ginge auch die Römerzeit?
Also für mich wäre die Römerzeit zu weit weg. Aber vielleicht der beste historische Roman überhaupt, Ich zähmte die Wölfin von Marguerite Yourcenar, spielt in der Römerzeit. Insofern würde ich nie sagen, das kann man nicht machen. Aber mir persönlich wäre es zu weit weg, wegen der Alltagsdetails. Ich hätte ein Problem, über Leute zu schreiben, die Togen tragen. Ja, wenn ich darüber nachdenke: Togen bekomme ich nicht hin. Hosen sind wohl doch irgendwie Vorbedingung für schriftstellerische Empathie bei mir.
Lass uns über Tyll reden. Was ist der Narr für eine Figur?
Der Narr ist ein Archetypus. Es gibt einen wunderbaren Aufsatz von C. G. Jung über den Pikaro, also über die Narrenfigur. In der frühen Neuzeit beginnt das, was Norbert Elias den Prozess der Zivilisation nennt. Dass man nicht vor dem Haus defäkiert, sondern sich dabei versteckt, solche Dinge werden langsam gesellschaftlich etabliert. Dass man beim Essen nicht einfach ausspuckt und, wenn möglich, Besteck verwendet. Solche Dinge. Der Narr ist die Figur, die sich diesem Prozess der Zivilisation verweigert. Mit burleskem Humor, und dann auch mit Geschichten, die überhaupt nicht lustig sind für uns.
Dass Till Eulenspiegel im alten Volksbuch einen Hund häutet, würden wir nicht komisch finden. Hat man früher darüber gelacht?
Schwierige Frage. Ich glaube, über vieles schon. Es ist für uns beide ja auch schwer nachzuvollziehen, dass jemand im Millowitsch-Theater lachen kann, also, denke ich, konnte man auch über diese Anekdoten lachen. Der archetypische Narr ist nicht nur nicht ganz zivilisiert, er ist auch nicht ganz Mensch, ist ein bisschen Tier. Tatsächlich zieht Jung eine Verbindung vom Narren zum Schamanismus. Und man denkt: Komisch, was hat denn das mit dem Narren zu tun? Und dann liest man den Simplicissimus noch mal und stößt auf diese Szene: Bevor Simplicius in Hanau zum Hofnarren wird, wird ihm ein Schlaftrunk verabreicht, und als er wieder aufwacht, trägt er ein Tiergewand, mit Hörnern dran.
Die Schellenkappe als Rest der Teufelshörner ...
Ja, selbst die Teufelshörner sind ja eigentlich Tierhörner. Auch hinter der Teufelsfigur steht das vielleicht noch ältere Bild der verschwimmenden Unterschiede zwischen Mensch und Tier – die Angst vor unserer eigenen Tiergestalt.
Deshalb wird Tyll nach jener merkwürdigen, geheimnisvoll blutig-orgiastischen Nacht, von der wir ja nichts wissen, mit dem Kopf des Esels gefunden, den er selbst getötet hat.
Er setzt ihn auf, das ist richtig, diese Szene ist von Jung beeinflusst.
Als Leser leidet man irgendwie mit Tyll mit, aber so richtig nahe kommt man ihm nicht. Das oszilliert zwischen Mitgefühl und Fremdheit. Dieser Tyll ist eigentlich gar nicht so richtig von dieser Welt.
Ja, das stimmt. Aber er hat Momente, wo er wieder menschlich sein kann. Wenn Leute sterben, empfindet er ein echtes Mitleid.
Aber er ist undankbar. Der Abt des Klosters Andechs rettet ihn vor den Wirren des Krieges, gibt ihm zu essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Und dann kommen die Leute vom Kaiser und holen ihn, und er zeigt sich als ein Arsch.
Ja, er ist überhaupt sehr oft ein Arsch. Ich habe das nicht geplant. Ich weiß nicht, warum er ab und zu undankbar ist. Als ich die Szene geschrieben habe, habe ich gemerkt: Jetzt verhält sich Tyll so. Es war ganz seltsam, bei anderen Figuren musste ich nachdenken: Was machen die jetzt, wie empfinden sie? Aber bei Tyll hat sich das immer von selbst hergestellt. Das war eine tolle Erfahrung, und ich fürchte, ich werde diese Erfahrung beim Schreiben nicht so bald wieder haben.
So stellt man sich das Dasein des Schriftstellers vor, er setzt sich hin, und dann kommen die Figuren und flüstern einem ins Ohr, was man schreiben soll. Das ist ja eigentlich ganz schön.
Ja, aber ich fürchte, im nächsten Buch muss ich wieder alle Figuren erfinden.
Aber fühlst du dich denn dieser Figur irgendwie nah oder verwandt, oder hast du ein besonderes Verständnis? Es gibt ja in dem Buch eine andere Figur, der ich mich sehr nahe fühle, den dicklichen Grafen Wolkenstein.
Freut mich, dass du ihn erwähnst, den mochte ich auch sehr, aber nach dem werde ich nie gefragt.
Der geht durch den ganzen Horror durch und weiß von Anfang an: Das ist alles zu viel für mich, aber er lässt es an sich ran, er verschließt sich nicht, und doch weiß er, dass er es nicht so erzählen kann, wie es war. Die einzige Figur, die die Sachen tatsächlich so beschreibt, wie sie sind, ist der Abt. Er trägt ein Büßerhemd und leidet unter der Welt.
Und jetzt wirst du vielleicht sagen, das Büßerhemd ist etwas übertrieben. Aber diesen Abt gab es wirklich: der Abt Friesenegger vom Kloster Anechs. Von ihm stammt einer der erschütternden Zeugenberichte aus dem Dreißigjährigen Krieg, darüber, wie er sein Kloster durch den Krieg gebracht hat. Und dieser Mann, der wirklich ein vorbildlicher Leiter seiner Klostergemeinde war, hat tatsächlich jahrelang so ein abscheuliches Büßerhemd getragen. Ein Hemd, in das Scherben, Dornen und Messerklingen eingewebt sind, sodass sich die ganze Haut in eine geschundene, schmerzhafte, entzündete Fläche verwandelt. Der Sinn des Büßerhemdes ist ständiger, unerträglicher Schmerz. Man fragt sich aus heutiger Sicht natürlich: Was sind das für Wahnsinnige, die so was freiwillig anziehen? Aber dann liest man den Bericht von Abt Friesenegger und merkt, das ist ein großartiger Mann, der viele Leben gerettet und seine Gemeinde durch die schwere Zeit geführt hat.
Man muss den Gegensatz ganz deutlich machen: der dickliche Graf, der ein liebenswürdiger, durch und durch sympathischer Mensch ist, der dem allen nicht gewachsen ist, der darum in seinem Bericht alles erfindet; und der Abt, der verhärmt und vom Schmerz gepeinigt ist, aber alles so sagt, wie es ist.
Ja, der kann den Dingen ins Gesicht sehen. Und der kann auch besser mit ihnen umgehen.
Gab es auch den Wolkenstein? Das hätte ich natürlich gerne.
Nein, den gab es nicht, und die Autobiografie, die er schreibt, gab es auch nicht. Aber ich schreibe das ganze Kapitel so, als wäre diese Autobiografie ein Klassiker des Spätbarocks.
Dem Tyll fühle ich mich dagegen eben nicht nah. Aber du, wie ist das bei dir?
Ich fühle mich ihm auch nicht nahe, aber er hat für mich persönlich etwas Tröstliches. Ich hab ihn mir als einen großen Künstler in einer sehr rohen Welt vorgestellt. Man darf ja nicht vergessen, das alles spielt fast noch in der Zeit Shakespeares. Wenn man über gefallene Könige im 17. Jahrhundert schreibt, dann ist man nicht mehr weit weg von der Shakespeare-Welt. Ich dachte mir also, Tyll ist eine Art Shakespeare des Seiltanzes und des Jonglierens. Und in dieser Hinsicht steht er – ohne dass ich mich ihm nahe zu fühlen wage – für die ungeheure Widerstandskraft der Kunst. Tyll als Entertainer war übrigens mein Einfall, im alten Volksbuch ist er das nicht. Aber damit steht er dafür, dass die dunkle Zeit für den Künstler nicht die schlechteste Zeit ist, brutal gesagt – vorausgesetzt, er überlebt. Wenn er nicht überlebt, ist es eine sehr schlechte Zeit für den Künstler.
Dein Tyll bezahlt mit allem: Er verliert seine Eltern, seine Freundin; wenn ich es richtig interpretiere, wird er als Kind von den Marodeuren im Wald kastriert.
Ich weiß es nicht genau, aber das wird angedeutet.
Der erste Absatz des Buches endet mit einem wichtigen Satz: „Denn es ist alles nicht lange her.“ Ist es auch ein Buch über das Erinnern?
Ja und nein. Jeder historische Roman ist natürlich ein Buch über das Erinnern. Wenn man nicht erinnern würde, könnte man keine historischen Romane schreiben, aber ich weiß, dass du die Frage nicht auf diese triviale Weise gemeint hast. Es ist ein Buch über das Erinnern, es ist aber auch ein Buch über das Vergessen. Darüber, dass die historischen Massaker so viele Opfer hatten, von denen wir gar nichts mehr wissen.
So stelle ich mir Gespräche über Literatur vor: Da fragt der eine: Ist es ein Buch über das Erinnern? Und der andere sagt: Ja, es ist aber auch ein Buch über das Vergessen.
Ja, da waren wir jetzt vielleicht beide etwas affektiert.
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