Die letzte Volkspartei

Essay Jenseits der Personaldebatte: Was die CDU mit dem Niedergang der Demokratie zu tun hat
Ausgabe 49/2018

Der Begriff Volkspartei ist nicht gesetzlich geschützt. Auch die SPD nennt sich weiterhin so. Andrea Nahles: „Das hat für mich weniger mit Prozentzahlen zu tun. Das ist eine Frage der Politik, die man anbietet.“ Jenseits solcher Unernsthaftigkeiten lässt sich sagen: Unterhalb von vielleicht 25 Prozent kann man nicht mehr von einer Volkspartei sprechen. Daher die These unseres Titels: Die CDU ist die letzte verbliebene Volkspartei in Deutschland. Die Konsequenzen sind erheblich und noch gar nicht von allen erkannt.

Denn die Situation ist eine fundamental andere, je nachdem, ob es nur eine Volkspartei gibt oder mehrere. Eine Volkspartei ist nach eigenem Anspruch und nach der Wirklichkeit ihrer Ergebnisse eine institutionalisierte Sammlungsbewegung. Sie will nicht die Interessen einer bestimmten Klientel vertreten, sondern die Interessen, wenn schon nicht des ganzen Volkes, so doch die breiter Bevölkerungsschichten. Der CDU gelingt das seit den 1950er Jahren, weil sie ihre Kraft aus liberalen, überkonfessionell christlichen und konservativen Wurzeln bezieht. Sie ist die eigentlich bürgerliche Partei in einem bürgerlichen Land.

Putschistisches Verhältnis

Neben der CDU stellen heute alle anderen Parteien die Vertretungen besonderer Interessen dar: Wer sich besonders für die Umwelt interessiert, wählt Grün, wer besondere Angst vor Ausländern hat, wählt AfD, wer dem Staat besonders skeptisch gegenübersteht, wählt die FDP, wer besonders besorgt über die soziale Ungerechtigkeit ist, wählt die Linken, und wer immer noch den Stern abonniert hat, wählt die SPD – aber diese Leute werden älter und sterben irgendwann. Andersherum: Wer keine besonderen, sondern allgemeine Interessen hat, muss heute eigentlich CDU wählen, seit die SPD als zweite Volkspartei weggefallen ist.

Damit wird die deutsche Wirklichkeit endgültig deckungsgleich mit dem Selbstverständnis der CDU, die sich schon immer als politischer Normalfall verstanden hat – der Rest sind Ausnahmen. Aus diesem Selbstverständnis erwächst das eigentümlich putschistische Verhältnis zu Recht und Verfassung, das sich – von Bismarck über Hindenburg zu Kohl – immer gut mit dem Wesen des Konservatismus vertragen hat. Wer den Staat gleichsam natürlich repräsentiert, verspürt auch ein gleichsam natürliches Recht, sich seine Regeln zu eigen zu machen und sie, wenn notwendig, zu beugen und zu brechen. Die systematische Visionslosigkeit der CDU ist ja aus der Sicht ihrer Wähler überhaupt kein Nachteil. Und nur ein Linker kann eine merkwürdige Paradoxie darin erkennen, dass ausgerechnet die Konservativen in Wahrheit ohne Prinzipien sind. Es sind die Revolutionäre, die ihren Grundsätzen folgen. Für Konservative gilt Metternichs Wort, dass Prinzipien drehbare Geschütze sind.

Warum ist das wichtig? Weil zwei Entwicklungen zusammenfallen: eine schwere Krise der westlichen, bürgerlichen Demokratie. Und zur gleichen Zeit gerät bei uns die bürgerliche Partei schlechthin in eine unangreifbare politische Rolle.

Das ist der Lenin-Moment unserer Gegenwart. 23. Dezember 1918: „Die Bourgeoisie muss notgedrungen heucheln und die bürgerliche demokratische Republik, die in Wirklichkeit eine Diktatur der Bourgeoisie, eine Diktatur der Ausbeuter über die schaffenden Massen ist, als ‚Volksmacht‘ oder als Demokratie überhaupt oder als reine Demokratie hinstellen.“ Lenin zitiert ein Wort von Marx, und der beschreibt unsere Wirklichkeit: Denn die Deckungsgleichheit von bürgerlichem Staat, bürgerlicher Politik und bürgerlicher Partei bringt uns der Diktatur der Bourgeoisie ziemlich nahe.

Wir müssen uns Mühe geben, zum eigentlichen Bedeutungsgehalt solcher Zitate zu gelangen. Sonst kommen sie uns wie Folklore vor, das intellektuelle Gegenstück zu den nachgemachten Abzeichen der Sowjetunion, die man an Straßenständen kaufen kann. Tand, Trödel, Imitate.

Aber wir erleben im Westen, dass die bürgerliche Demokratie keine stabile Regierungsform ist: Trump, Brexit, die französischen Unruhen – unkontrolliert entgleist unsere Demokratie in den Faschismus. Und Kontrolleure sind nun keine mehr zu finden. In zu vielen Kompromissen hat sich die Sozialdemokratie zu Tode kompromittiert. Auch die Totengräber der SPD haben jetzt ihre Arbeit getan. Sie können die Schaufeln weglegen und sich um Posten in der freien Wirtschaft bewerben.

Wer zurückblickt, wird feststellen, dass all das vorhergesehen wurde. Mit der Jahrhundertwende nahmen die Warnungen vor einer Implosion des Westens zu. Im Jahr 2001 hat Wilhelm Heitmeyer bei Suhrkamp seinen Band Schattenseiten der Globalisierung veröffentlicht. Heitmeyer schrieb über den Zusammenhang zwischen einem autoritären Kapitalismus und Demokratie-Entleerung. Über einen zunehmenden Kontrollverlust demokratisch legitimierter Politik auf der einen und einen rasant wachsenden Kontrollgewinn eines neuen, international agierenden Kapitalismus auf der anderen Seite.

„Das war mal wieder viel zu früh“, sagte er später. Es ist kein Spaß, wenn man – wie einst Kassandra – die Gabe hat, zu sehen, was man doch nicht wenden kann.

Heitmeyer warnte auch vor einem neuen Rechtspopulismus, der Nutznießer und Teil autoritärer Versuchungen sein werde. Und er war nicht allein: Richard Sennett sagte im Jahr 2004 einen neuen Faschismus in den USA voraus. Es ist bedrückend, seinen Essay „Im Zeitalter der Angst“ heute zu lesen. Schon damals warnte Sennett, dass in Clintons Amerika und Blairs Großbritannien weite Bevölkerungskreise den Glauben daran verlören, durch Selbstdisziplin, harte Arbeit und Aufopferung für die Familie ihre Lebensumstände beeinflussen zu können, dass sie sich übersehen fühlten, von den wendigeren Zeitgenossen – bestenfalls – mit Gleichgültigkeit behandelt.

Kommt uns das bekannt vor? Ja. Denn schon damals war die Rede von der Übersetzung wirtschaftlicher Fragen in kulturelle, die den Linken bei uns heute solches Kopfzerbrechen bereitet. Wer sich durch Arbeitslosigkeit bedroht sieht, unter mangelnder Krankenversicherung leidet, der findet Erleichterung darin, sich gegen Ausländer, Abtreibungen oder Homo-Ehen zu positionieren – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Aber Wirtschaft in Kultur zu übersetzen, ist eben irrational und logisch zugleich. Es ist verblüffend, dass diese fundamentale gesellschaftswissenschaftliche Einsicht in Vergessenheit geraten konnte – anders ist der selbstzerstörerische Konflikt zwischen den „nationalen“ und der „sozialen“ Linken nicht erklärbar. Aber die allgemeine Poverisierung hat eben nicht nur eine materielle und eine moralische Dimension, sondern auch eine akademische.

Wenn man sich an die in den Wind geschlagenen Warnungen der Vergangenheit erinnert, kommt einem der Gedanke, dass die Apotheose der CDU zur Apokalpyse der Demokratie werden kann. „Freiheit“ bedeutet bei uns schon jetzt, weitgehend unbehelligt über das Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln zu verfügen, und niemand fällt der Bourgeoisie jetzt noch in den Arm, diese Form der Demokratie, die eigentlich eine Diktatur ist, mit allen Mitteln zu schützen.

Das wichtigste Mittel ist natürlich die Angst – neulich war es noch die Angst vor dem Terror, jetzt ist es die Angst vor der Migration, Hauptsache Angst. Aber abgesehen davon verfügt der digitale Kapitalismus über Methoden für Überwachen und Strafen, die alles Bisherige in den Schatten stellen. Das sind freilich Beobachtungen vom Rand her, von der Peripherie, der gedanklichen, moralischen, kulturellen, materiellen – je nachdem. Die Kunst kann sich solche Gedanken leisten, vielleicht der unabhängige Journalismus, solange er seine Finanzquellen findet. Aus der Mitte sieht es anders aus. Man wird Annegret Kramp-Karrenbauer und selbst Friedrich Merz zugute halten, dass es ihnen nicht bewusst ist: aber der Sieg des Bürgertums ist der Sieg des Faschismus. Wir wissen nur noch nicht, wie dieser Sieg diesmal aussehen wird.

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