Helligkeitsstreifen - Erinnerungen an Tschernobyl

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Auf Arte war am Mittwochabend eine Dokumentation zum Reaktorbrand am 26. April 1986 in Tschernobyl/ Ukraine zu sehen: "Die Wolke - Tschernobyl und die Folgen". Erfahrbar wird, daß nicht nur die UdSSR ihre eigenen Bürger und die Welt über das konkrete Geschehen vor Ort im Unklaren ließ, sondern auch westliche Staaten ihre Bevölkerungen hinsichtlich der Folgen durch den fallout aus radioaktiven Wolken.

In der BRD zog sich Innenminister Zimmermann die Meßwerte auf den Tisch und ließ eigene Experten darüber befinden, obgleich das eigentlich eine originäre Aufgabe des Deutschen Wetterdiensts in Offenbach war, der auch entsprechende Messungen vorgenommen hatte. Doch Regierungssprecher verkündeten zuerst, es bestünde keine Gefahr für die Gesundheit - engagierte Bürgerinnen und Bürger maßen nach und gelangten zu anderen Ergebnissen ...

Die französische Regierung ließ anfangs verlauten und auch anschaulich im Fernsehen darstellen, die radioaktive Wolke habe aufgrund der Wetterlage einen Bogen um das Staatsgebiet gemacht, es bestünde kein Grund für Sorge. Auch dort gelangten unabhängige Institutionen allerdings zu anderen Meßergebnissen.

Die DDR unterrichtete ihre Bürgerinnen und Bürger erst am 28. April über die Katastrophe, der Rundfunk berichtete von zwei Toten und 18 Schwerverletzten - jedoch war ob der sparsamen Berichterstattung nur schwer vorstellbar, was passiert war ... Und mich erstaunt im Nachhinein, was ich damals nicht so recht wahrgenommen: wie sehr sich die Informationspolitik in Ost und West in dieser Frage gleichen sollte - Verschweigen, Verleugnen, die Gefahren herunterspielen ... Doch auch in der DDR gab es Leute, die die öffentlich verkündeten Messwerte mit ihren eigenen Zahlen konfrontierten.

Die Dokumentation verführte mich dazu, in meinen Tagebuchaufzeichnungen vom April 1986 zu blättern, unterm 28.04. fand ich Strahlungswerte aufgelistet, die vom DDR-Rundfunk veröffentlicht worden waren, im Zeitraum vom 30.04. bis 02.05. - für den 1. Mai wird beispielsweise ein das Hundertfache des Normalwerts dokumentiert. Danach lange Zeit kein Wort mehr im Tagebuch zu Tschernobyl, obgleich die Geschichte weiterging, auch für uns, deren Gedanken nun um die Bedeutung des Ortsnamens kreisten - Tschernobyl: Wermut, ein Stern ...

Interessant erscheint mir, was ich im Vorhinein notiert. Im April 1986 sollte noch einmal der Winter in Leipzig Einzug halten, mit etwas Schnee, Reiff und hochnebelartiger Bewölkung, die tage-, wenn nicht gar wochenlang dominierte, ein stetes Grau, was der Schreiberin Anlaß für schwermütige Gedanken bot, an die Mutter Erde, den Charakter und Sinn des Fortschritts und unseres Fortschrittsglaubens (19.04.), oder über die Geburten der Sonne, die wir künftig mit eigenen Kräften unterstützen müßten - seltsam, so etwas heute zu lesen, letzteres hatte ich am 27.04. aufnotiert, also einen Tag nach der Katastrophe, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts gewußt. Für den 16.04. verzeichnete das Ich einen ersten wirklich milden Tag und erste wilde Bomben eines neuen Krieges auf Libyen ...

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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