Sommer 68 - Versuch einer Rekonstruktion

Prager Frühling Im FrühJahr 1968 sollte das Herz des "Zeitgenossen" für Paris schlagen, für all jene, die dort den Aufruhr probten, und im Schatten dieser Vorgänge: Prag

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

am st. marien der geruch nach lysol, die patienten drehen mit ihren angehörigen eine letzte runde, bevor sie wieder der haft überantwortet werden, dem reglement jedweder anstalt: vorgezogenes abendessen, zeitige nachtruhe, denn jetzt ist es schon nach fünf, und ich verspüre, dies vor augen, wieder jenes ziehen im bauch, das sich unweigerlich einstellte, wenn die eltern mit mir den rückweg zum krankenhaus einschlugen, im sommer ’68, oder wir noch im café saßen und der blick zur uhr ging: gleich fünf, also zahlen, und das schattenreich wuchs, auch wenn wir die besonnte straßenseite für den rückweg wählten – nein, nicht daß der zeitgenosse des beistands der eltern so sehr bedurft hätte, in jenem jahr, da er seine strafmündigkeit erringen sollte, er vor allem eigenen interessen folgte, interessen, die er zumeist vor ihnen verbarg, die allein seine sache, und sowieso nur noch selten darüber sprach, was er an den langen nachmittagen so trieb – allein als verwahrtem dieser anstalt schienen ihm ihre sonntäglichen besuche doch wichtig, weil sie geeignet, ihn herauszulösen aus der zeit, für eine runde durch den park, eis oder kaffee, hauptsache hinaus -

Und eines sonntags im august sollte die mutter allein erscheinen, der vater, so hieß es, sei zum dienst abkommandiert, sie wisse nicht einmal wo, nur daß dies mit prag zusammenhänge … Und was hatte der zeitgenosse bislang über prag vernommen, gelegentlich aufgeschnappt, über den äther, mit ihm eingedräut bekommen? Dubczek, reformen, konterrevolution, chaotische zustände … – die hiesigen gazetten wußten im frühsommer zu berichten, in prager restaurants würde ein gericht namens “gebratener kossygin” feilgeboten, und das ginge natürlich nicht, den amtierenden sowjetischen ministerpräsidenten … doch den noch gläubigen zeitgenossen (unsere sache) hatte es eher amüsiert, derlei korrespondentenschmackes serviert zu bekommen, in der anstalt, die für ihre klienten die junge welt abonniert, erschienen ihm doch die genossen, die führenden, nicht nur jene der su, allzu dröge, vor allem deren stundenlangen referate, die noch jedesmal den sendeplan der rundfunkanstalten zu kippen in der lage. Schon im frühjahr also so manch spitzer kommentar in der presse zu den vorgängen in prag, und in der erinnerung ist mir, als wäre angelegentlich auch das wort dekadenz gefallen resp. westliche dekadenz, in bezug auf das treiben gewisser erhitzter gemüter in prag, die mit libertären losungen aufwarteten. Das gefährdete den plan …

Der zeitgenosse, der oft und mit vorliebe am radioapparat hing, am tropf, vermittels dessen die wirklichkeit …, der ab und an kurbelte und den stimmen aus dem äther lauschte, in anderer weise im rausch, rias, sfb und sonst noch was, musik, literatur, geschichte … drehte wohl ’68 häufiger am rad, schon wegen paris, und gelegentlich ließ er sich ein streifiges weltbild übermitteln, vom westdeutschen ersten, wo er sich beispielsweise an bundestagsdebatten delektierte, weil da was ablief, was an theater erinnern mochte … – hatte der zeitgenosse also auch anderes über prag vernommen als das eingemachte? Allzuviel konnte davon nicht hängen geblieben sein …

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne