Kein freier Wille? Das ist unlogisch

Hirnforschung Michael Jäger kritisierte den offenbar unausrottbaren Naturwissenschaftler-Mythos vom deter­minierten menschlichen Willen: unlogisch; falscher Kausalitätsbegriff.

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Erstens, der logische Widerspruch: Wenn wir determiniert sind, dann muss auch die These der Deterministen determiniert sein. Die Neurologen erforschen also gar nicht aus freiem Willen den freien Willen, sondern weil irgendwer oder irgendwas sie dazu zwingt. Wenn es keinen freien Willen gibt, gibt es auch keine freie Wissenschaft. Als Wissenschaftler müssen sie akzeptieren, dass ihre These auch falsch sein kann. Ihre eigene These wäre also gleichzeitig determiniert, d. h. unausweichlich und notwendig gegeben, und falsifizierbar oder revidierbar, denn sonst wäre das Ganze keine Wissenschaft.

Zweitens verwechseln die Deterministen Kausalität mit Determiniertheit. Sie übersehen, dass eine Ursache X keineswegs stets nur eine mögliche Entwicklung anstößt. Wenn mich auf der Straße jemand nach der Uhrzeit fragt, setzt diese Ursache zwar einen Rahmen für meine Antwort, lässt mir aber die Wahl für mehrere mögliche Antworten. Ich kann auf meine Uhr schauen und ihm sagen, was meine Uhr anzeigt. Ich kann aber auch sagen: "Tut mir leid, weiß ich nicht." Entweder weil ich keine Uhr dabei habe oder weil ich keine Lust habe daraufzuschauen. Schließlich kann ich ihm noch eine falsche Uhrzeit ansagen, entweder aus Bosheit oder um die Welt zu retten (weil ich erkannt habe oder vermute: Das ist ein Faschist auf dem Weg zu einer Faschistenkundgebung). Diese Vielfalt der Möglichkeiten in jeder Frage-Antwort- oder Aktions-Reaktions-Situation führt dazu, dass gesellschaftliche Prozesse eben nicht vorhersehbar, nicht determiniert sind – zum ewigen Ärger vieler Naturwissenschaftler und Techniker.

Jäger geht auch auf das neurologische Argument mit der Drittelsekunde Zeitverzug ein: Denn auch, wenn die Entscheidung im Gehirn etwas früher fällt, als sie mir bewusst wird, ist es immer noch mein Gehirn, das sie trifft, also ich. Jäger nimmt das Beispiel eines Tippfehlers: Er liest den Satz, den er getippt hat, sieht einen Fehler und korrigiert ihn. Wer war und ist dabei „ich“? Jene Hirnfunktion, die den Fehler verursacht hat, oder das Bewusstsein, das den Fehler erkannt und korrigiert hat? Ja wohl beide zusammen.

Ich ergänze: Die Drittelsekunde Zeitverzug, die die Neurologen messen, ist vergleichbar mit der Wegezeit, die ich berücksichtigen muss, wenn ich eine Verabredung einhalten will. Die Entscheidung, ob ich pünktlich komme, fälle ich, je nach Wegezeit, eine Stunde oder halbe Stunde vor dem Termin, weil ich die Wegezeit kenne. Ähnlich kennen Gehirn und Körper die Vorlaufzeit, die sie brauchen, um eine bestimmte Bewegung auszuführen – eben diese Drittelsekunde. Wenn ich also auf die Sekunde pünktlich eine Bewegung machen will, muss ich, mein Gehirn, eine Drittelsekunde früher damit anfangen. Das macht es dann auch.

Jägers These über die Motive der deterministischen Neurologen lautet: Sie stehen unter der Hege­monie des Kapitals, das naturwissenschaftliche Forschung bestellt und finanziert. Die Herrschenden des Kapitals sind es, die uns weismachen wollen, dass wir wie Algorithmen funktionieren und arbeiten und konsumieren, wie man uns vorsagt. Wir sollen nicht darüber nachdenken, ob wir auch anders handeln können. In die gleiche Kerbe haut das Dogma von einem angeblichen Selbstlauf der Technik. (Das, nach Jäger, auch Yuval Harari vertritt. Ich erkenne in der Zusammenfassung die auch unter meinen Freunden beliebte Ansicht wider: „Ja, du und ich, wir beide sind kreativ, wir sind eigenständig, aber schau dich um: Alle anderen sind Ameisen, Automaten, Algorithmen.“ Eine Ferndiagnose, die offen­sichtlich auf einer unscharfen oder verzerrten Wahrnehmung beruht.)

Michael Jäger: Er existiert, der freie Wille. der Freitag 21.10.2021 (Debatte)

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Geschrieben von

jejko

Historiker, Politologe, Werbetexter, Sachbuchautor, 1960-87 in Aachen, 1987-99 in Köln, seit 1999 in oder bei Bielefeld

jejko

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