Der Mythos von der Normandie

Russland/Ukraine In der deutschen Kriegsdebatte taucht die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als Beispiel auf für einen Krieg, der die Welt besser gemacht habe. Eine Geschichtsklitterung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eine Facebook-Debatte im Juli begann mit einem Foto von der Landung der Alliierten in der Normandie und der vorgedruckten Stellungnahme: „Wenn Deutsche fragen, wann Krieg je irgendetwas besser gemacht hat: 6. Juni 1944.“ Der Diskutant ergänzte: „Man hört die Frage leider immer öfter #standwithukraine“. Der Mythos vom 6. Juni 1944 soll offenbar einen offenen Krieg der NATO gegen Russland rechtfertigen. Er klittert die Geschichte an mehreren Stellen.

Er verschweigt, dass die Kriegswende im II. Weltkrieg schon Anfang 1943 erkämpft wurde – und zwar von der Sowjetunion in der Schlacht von Stalingrad. Sogar diese tief ins deutsche Geschichtsbewusstsein eingebrannte Wahrheit des Krieges stritten antirussische Agitateure 2022 plötzlich frech ab, mit dem Hinweis auf usamische Lastwagen, die Roosevelt 1942 an die Sowjetunion liefern ließ. Das ist so, als würde man behaupten, die Holländer hätten im April 2022 die Schlacht um Kiew gewonnen, weil sie Waffen an die Ukraine geliefert hatten.

Der Mythos vom 6. Juni 1944 suggeriert, Roosevelt habe aus freien Stücken entschieden, die Nazis anzugreifen, um die Juden und die freie Welt zu retten. Hat er aber nicht: Usa wurde Dezember 1941 von Deutschlands Bündnispartner Japan militärisch angegriffen und so in die aktive Kriegsführung hineinge­zwungen. Auch in Europa waren US-Truppen schon früher, nämlich schon Juli 1943 in Sizilien. Nichts davon hat die Welt besser gemacht oder irgendwelche Probleme der Menschheit gelöst, außer Problemen, die Kriegstreiber selbst vorher mutwillig oder fahrlässig erzeugt hatten.

Wer die Frage nach dem Nutzen von Kriegstaten stellt, findet wahrscheinlich, so wie ich, das Töten in der Ukraine unerträglich – und zwar das Töten von Russen genauso wie das Töten von Ukrainern. Die Frage zielt darauf, dass im Sommer 2022 viele NATOisten das Töten von möglichst vielen Russen als Problem­lösung verkauften. Es wurde von Tag zu Tag ekelhafter, auch wenn dieses Töten hinter Floskeln versteckt blieb wie: „Der Krieg muss mit einer tota-, ups: einer völligen Niederlage Russlands enden.“ Eben so, wie der II. Weltkrieg mit einer völligen Niederlage Nazideutschlands und Japans geendet hat. Sie verschweigen, was das bedeutet: Ukrainische Truppen sollen mit deutschen Waffen Archangelsk und Irkutsk erobern – so wie US-Truppen 1945 Torgau und Berchtesgaden erobert haben. Oder sie sollen, sagen wir, Saratow und Nowosibirsk mit Atomraketen zerstören, so wie US-Truppen 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstört haben. Diese beiden Szenarien würden in der Tat zur völligen Niederlage Russlands und nebenbei zur völligen Zerstörung Europas führen.

Ein anderer wies in der genannten Facebook-Debatte darauf hin, dass jeder Krieg als angeblicher Verteidigungskrieg begonnen werde. In der Tat: Hitler hat 1939 behauptet, er schieße gegen Polen zurück. Bush hat 2003 den Irak bombardiert, um sich gegen nicht vorhandene Chemiewaffen zu verteidigen. Das NATO-Mitglied Türkei ist 2019 in Syrien eingefallen, um sich gegen separatistische Kurden zu verteidigen. Putin hat den Krieg gegen die Ukraine begonnen, um Russland gegen ukrainische Faschisten zu verteidigen. „Die Unter­scheidung von Angriffs- und Verteidigungskriegen ist reines Propaganda-Geschwätz.“

Die Beispiele zeigen zwar, wie verlogen die Propaganda von »Verteidigungskriegern« sein kann. Dennoch behalte ich mir vor, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, wer wen angegriffen hat. Ich entscheide mich also, dass Nazideutschland 1939 Polen angegriffen hat und nicht umgekehrt. Im Nachhinein ist das leichter als in der aktuellen Kriegslage, die in der Tat durch Propaganda aller Seiten vernebelt wird. Dennoch entscheide ich mich auch hier, zumindest vorläufig, dass Russland die Ukraine angegriffen hat und nicht umgekehrt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jejko

Historiker, Politologe, Werbetexter, Sachbuchautor, 1960-87 in Aachen, 1987-99 in Köln, seit 1999 in oder bei Bielefeld

jejko

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden