Der Slapstick-Copperfield

Kino Armando Iannucci verfilmt Charles Dickens – mit Witz, Lockerheit und einem diversen Ensemble
Ausgabe 39/2020

Was dieses Menschenkind alles erlebt! Seit seiner Geburt stolpert David Copperfield, in Fabulierlaune und mit einer starken Haltung gegenüber den Abgründen seiner Zeit von Charles Dickens ersonnen, von einem Abenteuer ins nächste. Das Buch war zunächst 1848 als Fortsetzungsroman erschienen – darum angelegt in vielen kurzen Kapiteln. Und schaffte es, seinem umtriebigen Protagonisten neben der bitteren sozialen Thematik eine spezielle Heiterkeit mitzugeben: „Nun trat sie (...), anstatt die Glocke zu ziehen, an das nächste Fenster und drückte ihre Nase mit solcher Energie gegen das Glas, dass diese im Augenblick ganz platt und weiß wurde“ – so führte der Autor David Copperfields Tante Betsey Trotwood ein, die zu Copperfields Geburt erstmalig vorstellig wird und später eine wichtige Rolle im Leben des Erzählers spielt.

Armando Iannuccis filmische Adaption des Stoffs hat es sich zur Aufgabe gemacht, jene literarische Heiterkeit auf die Leinwand zu übersetzen: In leuchtenden Farben, mit slapstickaffinen Schauspielern, solidem Wortwitz und einem überzeugenden Gespür für Timing legt sein David Copperfield großen Wert auf die von Dickens angelegte Komik, die irgendwo unter der Härte der Verhältnisse schlummert.

„Lachhaft“, das ist der Kommentar von Tante Betsey (Tilda Swinton), als sie, kurz nach der Szene mit der platt gedrückten, weißen Nase erfährt, dass das Baby „nur ein Junge“ ist. Es wird eine Weile dauern, bis sich Copperfield (als Junge: Jaraj Vasani, später: Dev Patel) und Betsey anfreunden. Copperfields weitere Verbündete werden unter anderen: Betseys Mitbewohner Mr. Dick (Hugh Laurie), der darunter leidet, eine Art von unfreiwilligem Medium für die Gedanken von King Charles I. zu sein; Peggotty (Daisy May Cooper), Copperfields liebevolles und robustes Kindermädchen; Agnes Wickfield (Rosalind Eleazar), frühe Freundin und spätere Liebe; Mr. Micawber (Peter Capaldi), notorisch klammer Mitbewohner; und Dora (Morfydd Clark), in die sich Copperfield Hals über Kopf verliebt, als er eine Stelle bei ihrem Vater antritt. Sie kämpfen gegen die Widrigkeiten ihrer Existenz, gegen Klassenunterschiede und gegen Armut und Betrug.

Die alte Schnapsdrossel

Was sie alles gemeinsam schaffen, erzählt Iannucci mit überbordender Situationskomik. Wenn etwa übellaunige Gläubiger der Familie Micawber, deren Größe aufgrund des ständigen Kindergewusels nicht genau auszumachen ist, den abgewetzten Teppichläufer durch den Türschlitz nach außen ziehen, weil beim verschuldeten Micawber einfach sonst nichts zu pfänden ist, macht Iannucci aus der Situation einen Gag: Auf dem Teppich sitzt eines der kleineren Micawber-Kinder in seinem Stühlchen und schaut sich verwundert um, weil es plötzlich durch den Raum in Richtung Tür gleitet.

Und wenn Agnes’ Vater Mr. Wickfield (Benedict Wong) Tante Betsey besucht, muss die Minibar mit vereinten Kräften so unauffällig wie klimpernd aus dem Blickfeld des Gasts gerollt werden, weil Wickfield, die alte Schnapsdrossel, sie sonst allein austrinkt.

Auch die erste Liebe setzt Iannucci beseelt in Szene: Der junge Prokurator Copperfield sieht, nachdem er sich in Dora verguckt hat, ihren Namen in der ganzen Stadt – „Dora“ erscheint auf dem Theaterplakat und auf der Kutsche. Und sogar der alte Kutscher trägt plötzlich Doras wippende Biedermeier-Locken auf dem Kopf – genau wie die Westminster Abbey. So ist das eben mit einem Herzen, das in Flammen steht.

Aber David Copperfield ist neben einem Bildungsroman auch einer, der die sozialen Ungerechtigkeiten und die lieblose „schwarze Pädagogik“ der Viktorianischen Ära stark kritisiert. Iannucci ist sich dessen bewusst – und hat sich entschieden, die von Dickens in seiner harten Realität angesiedelten weißen Figuren mit einem Diversity-Cast zu besetzen: Die Eltern des Briten Dev Patel sind Inder, die Schauspieler Rosalind Eleazar, Nikki Amuka-Bird (als Mrs. Steerforth, die Mutter von Copperfields Mitschüler James) und Anthony Welsh (Ham Pegotty) Afro-Briten, Benedict Wongs (Mr. Wickfield) Eltern stammen aus Hongkong. Das Personenkarussell ist somit wahrhaftig farbenblind – auch, dass Eltern- und Kinderfiguren unterschiedliche Hautfarben haben, spielt absolut keine Rolle.

Das Ergebnis ist erfrischend – denn so sollte es doch eigentlich sein: Schauspieler*innen sollten alle Rollen spielen dürfen, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft. Die dadurch in den Situationen wahrnehmbare Ironie wird noch verstärkt, wenn etwa die zickig-snobistische Mrs. Steerforth David nach dem Stammbaum seiner Familie ausfragt und die traditionell weißen Oberschichtsverhältnisse Großbritanniens im 19. Jahrhundert als PoC damit auf den Kopf stellt.

Das funktioniert in diesem Moment des zeitlich distanziert und frei interpretierten Romans allerdings besser als in anderen: Authentisch ist die Darstellung der Gesellschaft natürlich nicht. Denn das europäische 19. Jahrhundert mit seinen steifen Klassenstrukturen und rassistischen Regeln war für Charles Dickens weit weniger bunt, als Iannucci es malt. David Copperfield wird stattdessen zu einer Hoffnungsstory, zu einem Traumgebilde wie das strahlende, umgekehrte „Schiffhaus“ in Copperfields Fantasie, in das dieser nach Jahrzehnten zurückkehrt.

Info

David Copperfield Armando Iannucci Großbritannien/USA 2019, 119 Min.

12 Monate für € 126 statt € 168

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