Isländische Trauerklöße

Serie Baltasar Kormákur erzählt vor Vulkankulisse von mysteriösen Wiedergängern – leider etwas unplausibel
Ausgabe 26/2021

Der Doppelgänger ist überall: In romantischen und schaurigen Erzählungen (bei E. T. A. Hoffmann, Edgar Allen Poe, Annette von Droste-Hülshoff oder Oscar Wilde), in der Musik (Franz Schubert), der Psychologie (Sigmund Freud, C. G. Jung) und erst recht in Filmen (bereits im ersten Autoren-Gruselfilm Der Student von Prag aus dem Jahr 1913).

Auch im isländischen Dörfchen Vik, das sich an den Vulkan Katla schmiegt, wird man fündig. Nachdem der Feuerberg zuletzt ausbrach, wurde das Dorf bis auf wenige Störrische evakuiert. Ein Jahr später spuckt Katla immer noch. Die Bewohner:innen Viks leben in mit schwärzlichem Ascheschlamm und schmutzigem Schnee bedeckten Häusern, in denen leise pustende Luftbefeuchter für ein besseres Raumklima sorgen sollen. Bei Bedarf nutzen sie eines der verlassenen Autos, die samt Schlüssel in den Gassen warten. Der einzige Zugang nach Vik führt über eine Art Styx – einmal täglich wühlt sich eine Fähre durch einen grauschwarzen Fluss.

Als plötzlich eine nackte, mit schwarzer Asche bedeckte Person auftaucht, ist die isolierte Gemeinde irritiert. Die junge Frau stellt sich als Ása, die vor etwa einem Jahr bei einem Gletscherunfall verschwundene Schwester von Grima, heraus. Sie kann sich nicht daran erinnern, wo sie war, und die zurückhaltende Grima, die mit ihrem Mann den letzten kleinen landwirtschaftlichen Betrieb beackert, zügelt ihre Neugier. Denn schon bald gibt es eine weitere „Rückkehr“ – oder ist es eine Verdoppelung? Gunhild, die schwedische Exgeliebte von Grimas und Ásas Vater, taumelt aschebedeckt in einen Schuppen in der Nähe. Allerdings scheint sie seit dem Abschied vor 20 Jahren nicht gealtert zu sein. „Seid ihr verwandt?“, fragt darum die Ärztin der kleinen Krankenstation verwundert die 20 Jahre ältere Gunhild, die ebenfalls das erste Mal wieder in Vik auftaucht, um herauszufinden, wer ihren Namen und ihr jüngeres Ich gestohlen hat …

Sind die Feen schuld?

Es ist schwer festzumachen, worum genau es in Katla (übrigens ein echter Vulkan in Island) geht. Wie in einem dystopischen Gemälde rührt Regisseur und Serienschöpfer Baltasar Kormákur surreale Symbolik ineinander, lässt zunächst einen schwarzen Raben mit einer weißen Feder „wiederauferstehen“, dann Menschen zurückkehren, sogar ein – eventuell psychopathisches – Kind erscheint zur zwiespältigen Überraschung seiner Eltern wieder.

Schnell zieht man alte Sagen zu Rate, das Huldufólk, Islands von vielen Inselbewohner:innen als absolut real empfundene Feenbevölkerung, erzählt schon lange Geschichten von „Wechselbälgern“, die immer wieder reinkarnieren. Doch die in den acht Katla-Folgen angedeuteten Probleme zwischen den schattenhaften Wiederkehrer:innen und den Dorfbewohner:innen deuten auch auf Verdrängung und Unterbewusstes hin: In der analytischen Psychologie von C. G. Jung steht der „Schatten“ für einen (abgegrenzten) Teilbereich der Psyche des Menschen, der „böse“ oder „gute“ Anteile haben kann. Und „jemand hat einen Schatten“ nennt man bis heute zaghaft despektierlich Menschen, bei denen man eine verlässliche Verbindung zur Realität vermisst.

Irgendwo haben somit vielleicht sämtliche Beteiligte des staubbedeckten Rätsels eine Art Schatten: Erstaunlich ruhig sind sie, keine:r wird je laut, weder eine hexenhafte, kaffeesatzlesende Hotelbetreiberin noch der bärtige Dorfpolizist mit seiner schwerkranken, ans Bett gefesselten Frau (die irgendwann ebenfalls gesund wiederkehrt), und dass Ása angeblich einst ein „wildes Mädchen“ gewesen sein soll, das von ihrem Vater regelmäßig voll wie eine Haubitze in Reykjavik eingesammelt werden musste, ist auch nur noch eine Behauptung.

So rüttelt Katla mit großartigen, schmutziggrauen, an biblische Apokalypsen erinnernden und dennoch nie komplett unrealistischen Bildern an einer Menge Sujets, streift Familienaufstellung und Umweltschutz (denn Eisschmelze und Vulkanausbruch könnten symptomatisch für den Klimawandel stehen), porträtiert abgekühlte, auf Lügen basierende Paarbeziehungen, geschwisterliche Eifersucht und pathologische Psychopathie.

Doch Kormákur kann sich nicht entscheiden. Zu mysteriös bleiben seine Ereignisse und Strukturen, zu wenig Interessantes und zu wenig Interesse wohnt in den Figuren, als dass man ihnen folgen möchte: Kann nicht wenigstens eine:r aus der stillen, unübersichtlichen, vielleicht ja auch typisch isländischen Protagonistenriege mal etwas Neugier entwickeln, mal genauer fragen, DNA-Tests anfordern, systematisch nachforschen?

Die erste isländische Netflix-Produktion Katla bleibt trotz der düsterschönen Atmosphäre, der interessanten Gesichter und des liebevoll ausgestatteten Settings nichts Halbes und nichts Ganzes, oder, um in der Gletscher-Wasser-Welt zu bleiben, weder Fisch noch Rabe: Als Mystery-Serie leidet sie an einem Plausibilitätsproblem, als psychologische Erzählung am fehlenden Willen zum Hinterfragen, als Porträt einer bestimmten Kultur an dem Verschwimmen in Andeutungen.

Dass nirgends in der Luft auch nur winzigste Humorpartikel tanzen, macht es nicht besser. Vielleicht liegt es am düsteren Himmel, der Einsamkeit oder dem Ascheregen. Aber eine größere Ansammlung isländischer Trauerklöße gab es vermutlich selten.

Info

Katla Baltasar Kormákur Island 2021; 8 Folgen; Netflix.

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