Originalstoff

Kinoöffnung Die Doku „Suzi Q“ startet als einer der ersten Filme unter den neuen Corona-Bedingungen
Ausgabe 23/2020

Jippie, die Kinos öffnen wieder. Nicht alle, nicht sofort, nicht unter den gewohnten Umständen: Tickets müssen vorab online gekauft werden (eh bei vielen Besucher*innen üblich), die Publikumszahlen sind begrenzt, in der Lobby herrscht voraussichtlich Maskenpflicht. Leider wohl nicht im Saal – der Zwei-Fliegen-eine-Klappe-Idee, sich mit einer durchgehenden Maskenpflicht auch des enervierenden Nachos-Gefresses und Popcorn-Geraschels zu entledigen, steht die finanzielle Abhängigkeit der Häuser vom Snackverkauf entgegen.

Doch immerhin: Es werden wieder Filme gezeigt – das kollektive Kulturerlebnis, das Kino im Gegensatz zum häuslichen Privatvergnügen Streaming oder Video-on-Demand (VoD) bietet, kann wieder stattfinden. Welche Produktionen nun allerdings das auch schon vorher schlingernde Kinoschiff retten sollen, ist genauso problematisch wie die technischen Anpassungen, die vorgenommen werden müssen – das Abmessen der geforderten Abstände, das Kennzeichnen oder Entfernen der nicht nutzbaren Sitze und so weiter.

Verkleidet vor der Leinwand

Auch wenn sich vermutlich alle einig sind, dass momentan etwa eine Fanvorstellung der Rocky Horror Picture Show mit einem sogenannten „Shadow Cast“ (verkleideten Schauspieler*innen vor der Leinwand), Strapsen, Wasserpistolen und Toastwerfen selbstverständlich nicht in Frage käme, treibt Verleiher*innen und Kinobetreiber*innen die Frage um, welche Filme sich denn nun zur Wiederbelebung eignen. Einerseits ist das abhängig von der Herkunft: Der vor allem wegen angeblich spektakulärer Real-Actionszenen mit viel Spannung erwartete neue Film von Christopher Nolan, Tenet, wäre eigentlich kein schlechter Kandidat. Nolan soll für seinen 225 Millionen US-Dollar teuren Agententhriller ein echtes Flugzeug in ein Gebäude gejagt haben, was angesichts der momentanen Krise der Flugzeugindustrie geradezu traurig visionär klingt. Doch wenn die Ansteckungszahlen in den USA weiterhin so alarmierend und die dortigen Kinos damit geschlossen bleiben, wird sich die Produktionsfirma Warner nicht auf eine Freigabe einlassen – damit fällt auch der deutsche Start weg. „Wann Nolan oder Disneys Mulan startet, das wird in Los Angeles entschieden“, heißt es aus der AG Kino, einem Zusammenschluss von Arthouse-Lichtspielhäusern.

Deutsche Filme kann man dagegen wunderbar zeigen: Die Hoffnung der Branche liegt auf den Berlinale-Wettbewerbskandidaten Undine von Christian Petzold und Berlin Alexanderplatz von Burhan Qurbani. Deren Starts sind für Anfang und Ende Juli geplant – das Problem ist, die dazugehörigen Werbekampagnen amtlich zu gestalten. Normalerweise sind mindestens anderthalb Monate nötig, um die berichterstattungswilligen Medien ausreichend anzuspitzen und auf diese Weise ein (sowieso immer noch ausgewähltes) Publikum neugierig zu machen.

Bereits Anfang Juni, ein paar Tage nach Suzi Quatros 70. Geburtstag, wird Suzi Q von Liam Firmager starten, ein energetischer Dokumentarfilm über die Can-the-Can- und 48-Crash-Rockbassistin, die ungefähr so hoch wie ihre Gitarre ist, aber endlich die Würdigung erfahren soll, die ihr als Pionierin zusteht.

Ohne ihre Schwestern

Der in Irland und Australien aufgewachsene Regisseur Liam Firmager hat die aus Detroit stammende Jumpsuit-Trendsetterin begleitet und lässt neben Suzi selbst, kühnen Musikerinnen wie Joan Jett, Donita Sparks (von L7), und den Runaways-Mitgliedern Lita Ford und Cherie Currie auch die Quatro-Schwestern zu Wort kommen. Denn die Geschichte der Pub-Rockerin ist ein Familiendrama: Nur Suzi wurde damals von dem britischen Produzenten Mickie Most ausgewählt und zwecks Durchbruch nach London verpflanzt – die Schwestern, mit denen sie ihre erste, lokal erfolgreiche All-Female-Band betrieb, blieben zu Hause. Wie tief Schmerz und Enttäuschung deswegen immer noch sitzen, wird in der Dokumentation deutlich: „Ich werde nie wirklich Fan von ihr sein“, sagt die ältere Schwester. Suzi dagegen gibt zu, dass sie eigentlich nur bei ihrer Familie ankommen wollte – ein Dilemma.

Welche verschlungenen Wege Quatros Karriere später einschlug, erzählt der Film ebenfalls: Dass die Musikerin nach Jahren als Seriengast „Leather Tuscadero“ in der US-amerikanischen Sitcom Happy Days eine Musicalkarriere verfolgte, gar selbst Musicals schrieb, wissen vermutlich nur beinharte Fans.

Durch die besondere Situation, in der sich die Kinos befinden, gerät Suzi Q nun zu einem der ersten Wiederbelebungsfilme. Das ist zwar absolut verdient, schafft aber das Problem, das kleinere, dokumentarische und/oder Arthouse-Formate haben, kaum aus der Welt: Sie mussten schon immer um Zuschauer*innen kämpfen. Denn das Publikum guckt am liebsten, was es schon kennt. Das war nicht immer so: Nach einer Analyse des Filmhistorikers William Mann, die bereits Anfang April auf einer Film-Website erschien, wurde das auch heute und auch in Deutschland übliche „Star-System“, also die Filme vor allem als Vehikel für ihre Schauspieler*innen zu begreifen, erst durch die Spanische Grippe des beginnenden 20. Jahrhunderts aufgebaut. Vorher habe es in der neugeborenen Filmwirtschaft eine große Vielfalt gegeben. Es sei der Paramount-Gründer Adolph Zukor gewesen, der die damals ebenfalls pandemiebedingte Kinopause mit dem Slogan „Famous players in famous plays“ umschifft habe. Plötzlich wurde es wichtig, dass Darsteller*innen möglichst „berühmt“ und die Stoffe bekannt waren.

Von dieser Prämisse lebt die Filmbranche noch immer. Vor allem die Blockbuster-Fabriken bleiben zunehmend in bekannten Universen, und in Deutschland geht der Trend ebenfalls ungebrochen weg vom Originalstoff. Welchen Einfluss Covid-19 diesbezüglich auf die Inhalte, Inszenierungsstile und Schauspieler*innen von morgen hat, ist noch nicht abzusehen. Doch man muss keine Unke sein, um zu sehen, dass Dokumentarfilme wie Suzi Q, Arthouse- und nationale Produktionen es schwerer haben werden, das angesichts von viel bequemem Home Entertainment nicht unbedingt motivierte Publikum zurückzugewinnen. Dabei macht Nachos-Rascheln in Gesellschaft doch viel mehr Spaß. Vor allem, wenn sich der*die Cineast*in hinter einem tüchtig aufregt.

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