Das Marvel Cinematic Universe ist nicht real. Darf es qua Genre-Regel auch gar nicht sein: Die Protagonisten und Protagonistinnen des MCU gewinnen ihre Kräfte durch Mutationen, göttliche und außerirdische Herkunft oder überragende Technik. Sie können zaubern, fliegen, unsichtbar erscheinen und irre schnell rasen; selbst Handicaps (wie der Verlust des Augenlichts bei Daredevil) haben sie zu Stärken ausgebaut. Weil man so weniger erklären muss, verkehren sie verständlicherweise viel mit ihresgleichen und bauen dabei langjährige Allianzen und auch feste Feindschaften auf.
Nicht wenige von ihnen wechseln im Laufe der Abenteuer die Seiten: Wanda Maximoff alias Scarlett Witch zum Beispiel, Tochter des fiesen X-Men-Antagonisten Magneto, kann mit ihren Zauberkräften die Realität beeinflussen. Nach einer Zeit der Jugenddelinquenz läuft sie zu den „Guten“ über und wird Mitglied der New Avengers – genau wie ihr späterer Ehemann Vision, ein Android, der das Team der notorischen Weltretter:innen eigentlich vernichten sollte. Die neue MCU-Serie WandaVision überrascht darum auf formaler Ebene zunächst sehr: In der ersten Episode erlebt man die aus den Avengers-Filmen bekannten Elizabeth Olson als Wanda und Paul Bettany als synthetischen Humanoiden Vision in einem klassischen, schwarz-weißen US-Sitcom-Setting der 1950er-Jahre, inklusive „Laugh Tracks“ und Werbepause mit sexistischen Clips.
Dementsprechend sitzen die Vintage-Locken fest auf Wandas Kopf, Vision macht onkelige Witze und Wandas Episodenproblem stammt aus dem Hausfrauenlehrbuch: Wird sie es schaffen, das überraschende Dinner mit Visions Chef und dessen Frau zu gestalten, ohne ihre Hexenkräfte zu offenbaren? Im zweiten Teil sind Wanda und Vision in der fernsehrealen Zeit nach vorn gereist und in den 60ern gelandet, des Publikums Erkenntnisgewinn ist nur wenig gewachsen. Irgendetwas, das kristallisiert sich in weiteren Folgen heraus, die in Setting, Ausstattung und Sound perfekt TV-Sitcom-Vorbilder der 70er- und 80er-Jahre kopieren, irgendetwas stimmt nicht mit Wanda, Vision und den zwei ratzfatz geborenen und zu Teenagern gewordenen Söhnen. Mit den zunehmenden Rissen im Seriennarrativ macht die Story klar, dass die Umgebung weder echtes Fernsehen noch echtes Leben ist. Ein „Draußen“ sickert in Wandas Visionen ein. Bald versuchen S.W.O.R.D.-Agent:innen, Wandas Zauberspruch – denn um einen solchen handelt es sich – zu lösen ...
Parodie aufs Fernsehen
Wie liebevoll und detailliert die WandaVision-Folgen im Sitcom-Style gestaltet wurden, hat viel Charme: Hier waren Leute am Werk, die die Originale verehren. Angeblich haben sich die Macher Kevin Feige, Jac Schaeffer und Matt Shakman zur Vorbereitung sogar mit der Ikone des Genres, Dick van Dyke, getroffen. So weit aus der (selbstdefinierten) Realität entfernt hat sich zudem wohl noch keine Superheld:innen-Geschichte, und so spielerisch und gleichzeitig auf eine subtile Weise psychologisch gefordert sieht man die meist rund um die Uhr mit Rettungsmissionen beschäftigten Protagonist:innen selten. Aber WandaVision plumpst schließlich unsanft in ein dramaturgisch zähes und von vielen logischen Schwächen gebeuteltes Finale. Die Grundidee – jemand zaubert sich, weil er es kann, in eine eskapistische Parallelwelt – funktioniert eben nur begrenzt in der eh bereits rechtschaffen verzauberten Parallelwelt des MCU. Die groß angelegte Fernsehparodie der ersten Folgen verpufft angesichts der minimalen dramaturgischen Funktion, die sie in der Gesamtgeschichte spielt. Sozusagen viel Rauschen um nichts.
Vielleicht versucht sich die zweite neue Serie dieser als „Phase IV“ des MCU ausgerufenen Produktionspalette, The Falcon and the Winter Soldier, auch darum an einem hyperrealen Gegengewicht zur Fantasy-Welt von WandaVision. Die erste Folge der Geschichte um den Superhelden Falcon (Anthony Mackie) und den „Winter Soldier“ James „Bucky“ Barnes (Sebastian Stan) beginnt mit solider Krieger-Action: In einer mit hohem Material- und Schauwert gedrehten und vor Explosion und Testosteron qualmenden Anfangssequenz befreit der Falcon durch zehn Minuten Luftakrobatik einen entführten Militäroffizier und macht seinen Gegenspielern leichthändig beziehungsweise -flügelig den Garaus. Dann gibt er den Schild des legendären Patrioten Captain America im Smithonian Museum ab, muss hernach jedoch bei einem Besuch zu Hause in Louisiana feststellen, dass sich sein Status als unterprivilegierter schwarzer Mann auch durch Superkräfte kaum ändert: Der (weiße) Bankangestellte, der gerade noch ein Selfie mit ihm wollte, verweigert ihm und seiner Schwester einen Kredit. Der Winter Soldier macht sich derweil an das in einer Therapiestunde etablierte Problem der Einsamkeit, und beflirtet vorsichtig eine junge Barfrau.
Dass zum Schluss der Folge überraschend ein neuer Captain America gekürt wird, wird vor allem die Kenner:innen der Saga zum Weiterschauen anregen: Ohne das nötige Insiderwissen um die Schicksale der Held:innen, den sogenannten „Blip“ und weitere MCU-Eigenheiten können beide Produktionen nur begrenzt Vergnügen bereiten. Was schon in Ordnung ist – nach so vielen Jahren, Formaten und Abenteuern darf man sich auf seine Fanbasis verlassen. Diese wird garantiert auch beizeiten neugierig auf die nächste angekündigte Serie Loki mit Tom Hiddleston als schwarzhumorigen Thor-Bruder schauen, dessen enigmatische Ambivalenz eine seiner besten Eigenschaften ist.
Andererseits verpassen die neuen Disney-MCU-Serien bislang, was einige der inzwischen gecancelten Netflix-MCU-Produktionen (Daredevil, Luke Cage, Jessica Jones) so berückend machte: Sie stellten eine von reellen gesellschaftlichen Sorgen (Armut, Mietwucher, Korruption, Benachteiligung) geprägte Nähe und Bodenständigkeit her, in der man sich das Erscheinen eines Superhelden oder einer Superheldin tatsächlich wünscht. Denn ganz ehrlich: Es gäbe für den Falcon, Wanda oder Loki gerade jede Menge zu tun.
Info
WandaVision Jac Schaefer USA 2021; 9 Folgen; Disney+
The Falcon and the Winter Soldier Kari Skogland; USA 2021; 6 Folgen; Disney+
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