„Konfabulation“ nennt man es, wenn jemand sich an Dinge erinnert, die nicht passiert sind. In der Aufklärung von Straftaten kann das Konfabulieren eine wichtige Rolle spielen. Denn wenn Zeug:innen suggestibel sind, entstehen unter Umständen falsche Wahrheiten. Anfang der 1990er wurden in drei aufsehenerregenden Prozessen 25 Erwachsene von 16 Kindern des vermeintlichen Massenmissbrauchs bezichtigt. In Worms hatte eine Sozialarbeiterin bei ihr anvertrauten Kindern angeblich Hinweise auf Missbrauch gefunden, sie befragte weitere Kinder, ein Pädiater bestätigte die Vermutungen.
Nach drei Jahren, in denen Familien auseinandergerissen und Kinder in Pflegeeinrichtungen untergebracht wurden, stellte sich die gesamte Anklage als falsch heraus: Es hatte keinen Massenmissbrauch gegeben. Inzwischen war eine der fälschlicherweise Angeklagten im Gefängnis verstorben, Ehen waren zerbrochen, Söhne und Töchter hatten sich von den Eltern entfremdet, und einige der Kinder waren tatsächlich Opfer von Missbrauch geworden – in genau jenem Heim, in das sie zum Schutz eingewiesen worden waren.
Die Serie Glauben, die beim diesjährigen Serienfestival Canneseries mit zwei Preisen bedacht wurde, beschäftigt sich über Bande mit diesem monströsen Fall. Protagonist ist der Strafverteidiger Dr. Schlesinger, eine eigenbrötlerische Figur, bei der Peter Kurths bodenständige und geduldige Darstellung sogar Klischees überzeugend wirken lässt: Der wortkarge Witwer säuft und raucht Kette; während seine Bude sukzessive vermüllt, ignoriert er die Spielschulden, die er – anscheinend – bei einer ominösen chinesischen Mafia angehäuft hat. Als Sidekick hat Ferdinand von Schirach, der die Drehbücher schrieb, ihm ausgerechnet die Frau an die Hand gegeben, die jene Schulden eintreiben soll, und den Anwalt dafür zunächst kräftig vermöbelt: Die Miet-Schlägerin Azra (Narges Rashidi), die Schlesinger aus angedeuteten persönlichen Gründen anschließend selbst beauftragt, ist eine Art „Modesty-Blaise“. Sie trägt teure Lederblusen und Zehn-Zentimeter-High-Heels, wird in Restaurants stadtweit gefürchtet und darum überall umgarnt, ist noch wortkarger als Schlesinger (es muss eine hübsche Herausforderung gewesen sein, sämtliche Sätze Azras auf ein einziges Hauptwort zu verkürzen), und ihre Lieblingswaffe ist der Hammer – was dem Begriff „Hammerbraut“ eine völlig neue Konnotation gibt.
Recht ist nicht Moral
Diese beiden unterschiedlichen Bereiche – die bedrückende Geschichte der von 1994 bis 1997 dauernden Wormser Prozesse und die klassisch-exzentrische Krimiidee – hat von Schirach zusammengeführt und in die Gegenwart versetzt. Jener Kniff gibt dem Autor und Juristen die Möglichkeit, auch die Verbreitung von Gerüchten durch Social Media zu behandeln: Die These der Missbrauchseltern wird von Anfang an durch Tausende Tweets und Kommentare weitergetragen. „Wissen Sie, wieso es die sozialen Medien gibt?“, lässt von Schirach seinen handfesten Anwalt philosophieren. „Die Menschen halten es nicht aus, still zu sein, wenn es nichts mehr zu sagen gibt“, antwortet er sich selbst.
Mit gewohnt didaktischem Anspruch liegt von Schirachs Augenmerk jedoch vor allem auf dem Diskurs um Recht und Moral: Eines der Probleme, mit denen sich Schlesinger herumschlägt, ist die verbreitete Annahme, die „Moral“ spiele bei der Rechtsprechung eine Rolle. „Sie glauben, Gerechtigkeit heißt, Moral durchzusetzen“, sagt Schlesinger in einem für eine Krimiserie beeindruckend dialektischen Gespräch zu der Sozialarbeiterin, die angeblich Hinweise auf Missbrauch gefunden hatte. „Gerechtigkeit muss immer moralisch sein“, antwortet die Frau (Katharina M. Schubert). Und macht damit den gängigen Fehler, den fluiden, je nach Gesellschaft, Epoche und persönlichem Empfinden subjektiv schwankenden Wert der „Moral“ mit dem festen Rechtsbegriff zu verbinden. Recht muss nämlich unbedingt unabhängig von Moral sein.
Eine beklemmende und wenig glaubhafte Szene am Anfang, in der von Schirach den Kinderarzt bei der Untersuchung eines kleinen Mädchens in medizinischer Sprache die angeblichen Missbrauchsanzeichen schildern lässt, soll vermutlich das Publikum aufwecken und hineinziehen – eine ambivalente Methode. Glücklicherweise verzichtet die Serie darüber hinaus weitgehend auf drastische, spekulative und sensationalistische Elemente, die Kinder kommen kaum mehr vor, sodass ihr vermeintliches (und echtes) Leid nicht weiter ausgestellt werden kann.
Stattdessen konzentriert sich Glauben auf die Ermittlung, auf grüblerische Gespräche – und auf von Schirachs wie immer eifrig eingestreute Sachkenntnis: Dass in Deutschland auch nachts ein Strafverteidiger Dienst haben muss, erfährt man genauso en passant wie die „Lebendkontrolle“, die in Gefängnissen üblich ist, oder was gemeint ist, wenn vor Gericht ein „unaufschiebbarer Antrag“ gestellt wird: Der bedeutet nämlich, dass jemand Befangenheit vermutet. Zur Auflockerung des trotz allem knallharten Stoffs setzt von Schirach zudem auf einen gewissen Fantasy-Aspekt, der die megastarke und unerschrockene Azra umweht, wenn sie in High Heels und Designerjackett aus dem Handgelenk doppelt so große und schwere Männer verprügelt – und natürlich dabei ebenfalls irgendein Trauma mit sich herumträgt: Einfach so werden Frauen nicht zu Schlägerinnen.
Die unterhaltsamen Comic Reliefs, etwa Schlesingers Versuch, sein einsames Männerleben durch die Anschaffung eines Goldfischs ein wenig karitativer zu gestalten, sorgen zusätzlich für Distanzierung und Erholung. Der Goldfisch, den Schlesinger bei einer schlecht gelaunten Tierfachverkäuferin ersteht, macht das Leben in der beengten Glaskugel allerdings nicht lange mit. Doch wen wundert’s? Immer im Kreis zu schwimmen, führt halt nirgendwohin.
Ferdinand von Schirach – Glauben Miniserie mit 7 Episoden auf RTL+, ab 4. November
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