Von oben kommt das erste Unheil, gleich zu Beginn in Aslı Özges Black Box: Ein Kran hievt einen Bürocontainer in den Innenhof eines maroden Berliner Mietsgebäudes. In dem Kasten mit der Aufschrift „East West Management“ bezieht Hausverwalter Johannes Horn (Felix Kramer) seine neue Stellung. Er scheint nur wenige Freunde zu haben: Bald landet ein Ei auf seiner Jacke und der streitlustige Mieter Erik Behr (Christian Berkel) geht auf die Barrikaden, als man die Müllcontainer wegen des nun entstandenen Platzmangels direkt unter seinen Fenstern parkt.
Dann riegelt auch noch ein Sondereinsatzkommando der Polizei das Gebäude ab. Auf die Frage der Mietergemeinschaft, warum sie plötzlich weder rein noch raus dürfen, antwortet ein vermummter Polizis
vermummter Polizist nur: „Verlassen Sie bitte die Einfahrt!“ Was der tatsächliche Anlass für die Abriegelung ist, bleibt im Dunkeln – eine undefinierte Repression, die diesen filmischen Dampfkochtopf anfacht.Schon in ihrem ersten deutschsprachigen Film aus dem Jahr 2016, Auf einmal, entwarf Özge ein Sittenbild. Das Psychodrama drehte sich um einen Bankangestellten in der bürgerlich-spießigen Provinz, auf dessen Party eine unbekannte Frau tot zusammenbricht. Auch in Black Box haben alle, wie man so sagt, ihre Pakete zu tragen: Die von Luise Heyer gespielte Henrike Koch, eine Mutter, will nach der Erziehungsauszeit wieder im Job Fuß fassen, kann aber wegen der Abschottung nicht zum Bewerbungsgespräch. Ein Problem ist das auch deshalb, weil sie und ihr Mann Daniel (Sascha Alexander Geršak) Hausverwalter Horn ein Kaufinteresse an ihrer Wohnung mitteilen wollen und das zusätzliche Einkommen dringend als Sicherheit bräuchten.Lehrer Erik Behr sucht mit seinen Mitstreiter:innen Karsten (André Szymanski) und Karin (Anna Brüggemann) Verbündete für eine Unterschriftenaktion gegen den neuen Standort der Mülltonnen. Ismail (Timur Magomedgadzhiev) und Madonna (Manal Issa), sind frisch verliebt, aber bangen bald um ihre Sicherheit. Denn plötzlich heißt es: da muss doch etwas Illegales passieren hinter den Türen der aus Afghanistan und Iran Zugereisten! Oder wo kommen die eigentlich her? Mittendrin Hausverwalter Horn, der am liebsten Kameras im Hof anbringen möchte. Als Verwalter der heiß begehrten, zum Verkauf stehenden Wohnungen sitzt er am längeren Hebel. Er ist auch der Einzige, mit dem die Polizei spricht.„Black Box“ arbeitet sich an den großen Themen unserer Zeit abDie 1975 in Istanbul geborene, seit 2000 in Berlin lebende Regisseurin verdichtet in Black Box einen Tag im Ausnahmezustand zu einer Metapher auf unsere Gesellschaft und arbeitet sich an großen Themen unserer Zeit ab: Macht, Gentrifizierung, Rassismus, Klassismus und ein übergriffiger Sicherheitsapparat. Die Spuren der vergangenen Jahre durchziehen den Film. In der Abschottung spiegelt sich die pandemische Ausnahmesituation, manche tragen Masken. Das Impfen spielt eine augenzwinkernde Rolle, als eine aus der Türkei mitgebrachte Katze jemanden kratzt. Wie, die ist nicht gegen Tollwut geimpft?Mit zugespitztem Sozialrealismus dekliniert Özge durch, wie in dem Mikrokosmos Mietshaus eine Gemeinschaft, bestehend aus Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Sprachen und Religionen, peu à peu aufgrund von Vorurteilen, privatwirtschaftlichen Interessen und Egoismus zerbricht: Demokratie am Limit.Özge macht sich dabei mit keiner ihrer vielen Figuren gemein. Auch wenn Henrike Koch im Zentrum steht, verbündet sich der Film weder mit ihr noch mit anderen. Vielmehr werden die Zuschauer:innen auf Distanz gehalten und selbst zu Beobachtenden in der Versuchsanordnung aus Zuschreibungen und misstrauischen Blicken durch Fenster – Alfred Hitchcock lässt grüßen. Was geht wirklich vor sich bei den Nachbarn, wer verfolgt welche Interessen und wem ist zu trauen?Eingebetteter MedieninhaltBlack Box ist ein weiterer deutscher Film, in dem ein bestimmtes Biotop zum Brennglas gesamtgesellschaftlicher Tendenzen wird. Im vergangenen Jahr hat Natalia Sinelnikova in Wir könnten genauso gut tot sein von einer „Gated Community“ in einem abgeschotteten Hochhaus erzählt – ein gekonnt zwischen Sozialsatire, Thriller und absurdem Drama changierender Film über die Macht der Angst. İlker Çatak verdichtete in dem meisterhaften Drama Das Lehrerzimmer einen Vorfall in einer Schule zu einem treibenden Thriller über Machtstrukturen, Alltagsrassismus und Mobbing.Eine solche Dinglichkeit wie Das Lehrerzimmer entwickelt Black Box nicht. Auch weil, anders als bei Çataks Schulthriller, recht schnell klar wird, worauf sich die Abwärtsspirale fokussieren wird. Auch wirken einige Dialoge recht gekünstelt. Dennoch gelingt es Özge kunstvoll, ihre vielen kleinen Geschichten zu einer filmischen Parabel zu verschweißen. Zu Abziehbildern verkommen ihre verschiedene Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse repräsentierenden Figuren dank des pointierten Drehbuchs und des gut aufgelegten, teils prominenten Casts nicht – neben Heyer und den anderen Genannten spielen auch Anne Ratte-Polle und Hanns Zischler mit.Irgendwann taucht eine Leiche auf, Angst und Misstrauen verblenden die Sinne, der Ton wird rauer, die Mittel härter. Und so einschüchternd die staatlich verordnete Abschottung, der Einfluss von außen, auch wirken mag: Im Kern erzählt Black Box davon, wie eine Gesellschaft von innen heraus zerfressen wird. Aktueller geht es kaum.Placeholder infobox-1