Tschüss, bis gestern

Zeitreise Christopher Nolans „Tenet“ soll als einziger Sommer-Blockbuster das Kino retten – und schafft so viel mehr
Ausgabe 35/2020

Schon in „gewöhnlichen“ Jahren ist jeder neue Film von Christopher Nolan ein Hype-Garant. Sobald Details bekannt werden, erste Szenenfotos, Inhaltshäppchen, die, marketingstrategisch klug portioniert aus Nolans wie Fort Knox gesicherter Traummaschinerie herausgelassen werden, geht das große Hyperventilieren los. Bei den Arthouse-Guckern ebenso wie bei der Blockbuster-Community. Kein anderer bringt cinephile Leidenschaft, filmisches Experiment und intelligente Stoffe mit groß budgetierten Produktionen so zusammen wie der in London geborene Autorenfilmer.

Aus demselben Grund sind aber auch bei jedem neuen Nolan-Film die Erwartungen besonders hoch. Und dieses Jahr toppt dahingehend alles: Die Erwartungen an Tenet türmen sich vor dem Regisseur gewissermaßen auf wie die Pariser Straßenzüge in Nolans Traum-Thriller Inception. In der Berichterstattung wurde Nolan regelrecht zum Messias stilisiert, der den coronagebeutelten Kinos mit Tenet nun die Erlösung verschaffen soll. Sind doch sämtliche anderen Großproduktionen, für die man ein Millionenpublikum zur Refinanzierung braucht, aufs Jahresende oder gar auf unbestimmte Zeit verschoben. Kein Wunder also, dass die gesamte Branche mit großen Augen auf Nolans 225-Millionen-US-DollarFlaggschiff schaut, seinen bisher teuersten Film.

Ob Tenet der Film sein wird, der den Kinos trotz der Hygieneauflagen eine zufriedenstellende Auslastung beschert, wird sich zeigen. Immerhin bringt der Film alles mit, um das Kino als Ort des Events und Möglichkeitsraum regelrecht zu feiern: Erneut drehte Analogfetischist Nolan auf 70-mm-Film und im IMAX-Format. Grundsätzlich fordert Tenet, wie seit jeher bei Nolan, unseren Wahrnehmungsapparat heraus. Wobei dieser neue Brocken vielleicht sogar sein verkopftestes Werk ist.

Tatsächlich führt der Regisseur mit Tenet seine Obsession für die Zeit auf ein neues Nerd-Level. Memento ließ er szenenweise rückwärts laufen, um uns in die Lage des Rächers ohne Kurzzeitgedächtnis zu versetzen. Ein wesentlicher Spannungsmotor von Inception resultierte daraus, dass jede neue Traumebene, in die uns der Heist-Film führte, auch eine neue Zeitebene bedeutete. Von der Evakuierung des britischen Expeditionskorps im Zweiten Weltkrieg in Dunkirk erzählte Nolan auf drei Zeitebenen an Land, zu Wasser und in der Luft; und im Science-Fiction-Epos Interstellar reisten wir an Orte, an denen die sogenannte Zeitdilatation dafür sorgte, das Stunden auf einem Planeten Jahre auf der Erde bedeuteten.

Überdrehte filmische Hybris

Tenet nun ist, was der Titel bereits andeutet: ein filmisches Palindrom. Nolan spielt mit dem Gedanken der zeitlichen Inversion und spinnt daraus einen Science-Fiction-Thriller. Ohne Exposition werden wir hineingeworfen: in das Opernhaus von Kiew, wo Terroristen den voll besetzten Kulturtempel stürmen, der dann seinerseits von einem Sondereinsatzkommando gestürmt wird; in eine Folterszene zwischen Gleisen, auf denen unentwegt Züge vorbeirattern und der russische Foltermeister mit der Zange sagt, dass keiner länger als 18 Stunden durchhalte.

Es ist ein rasanter Auftakt auf Bild- und Tonebene, in dem Hoyte van Hoytemas Kamera kaum je zu Ruhe kommt und Ludwig Göransson, der diesmal anstatt Nolans Stammkomponist Hans Zimmer die Musik verantwortet, das Geschehen breit orchestriert. „Wir leben in einer zwielichtigen Welt“, lautet ein frühes Zitat, das uns den Film über begleiten wird. Der von John David Washington gespielte Agent, dem wir folgen, scheint zunächst ebenso wenig wie wir zu verstehen, wie ihm geschieht. Nolan legt Spuren und peitscht seinen Film in knappen Dialogen voran. „Tenet“ lautet das Schlüsselwort, das dem namenlosen Agenten, dem der Oberbefehlshaber besondere Fähigkeiten attestiert, mit auf den Weg gegeben wird. Es gehe um eine Mission, die weit über nationale Interessen hinausgehe, die schlimmer sei als der „nukleare Holocaust“, um das große Ganze. Nolan macht selten Kompromisse, Tenet ist überdrehte filmische Hybris.

Mit einer invertierten, also sich rückwärts bewegenden Pistolenkugel, entbrennt ein actiongeladener Plot um eine geheime Mission, um invertierte Entropie, um das Verhältnis von Ursache und Wirkung – „Jede Generation ist für sich selbst verantwortlich“, heißt es einmal großspurig mit Bezug auf aktuelle Diskurse –, um Mutterschaft und die egoistischste, tyrannischste Form von Männlichkeit überhaupt. In irrsinnigem Tempo geben sich Physik, Philosophie und Bombast die Klinke in die Hand, dass einem der Kopf nur so qualmt. „Versuchen Sie es nicht zu verstehen, fühlen Sie es“, sagt die Forscherin mit der zeitverwirrten Kugel. Es ist ein Satz, der dem Film gut steht, wobei gerade im Verstehen-Wollen ein Reiz liegt. Folgen kann man der Hatz dennoch.

Es geht rund um den Globus, nach Indien, Oslo, auf die Suche nach einem gefälschten Bild Goyas, einem Waffenhändler (Kenneth Branagh) und seiner gebeutelten Frau (Elizabeth Debicki), nach Plutonium 241. Orte, Namen und Zusammenhänge rasen nur so vorbei und ziehen uns hinein in diese in ihrer verschwurbelten Komplexität kaum zu fassende, allerdings über zweieinhalb Stunden packende Geschichte, in der die Umkehrung von Zeit, das Zurückgehen in ebenjener, eine immer größere Rolle spielt.

In keinem Film zuvor haben sich Nolans Experimente mit der Zeit inhaltlich und ästhetisch derart berührt und bedingt wie hier. Tatsächlich gelingt es dem Regisseur und seinem Team, die Parallelität verschiedener zeitlicher Bewegungen, das Vor und Zurück auf die Leinwand zu bringen. Da bewegen sich Menschen unter erschwerten Bedingungen – Hitze wird zu Kälte, Rücken- zu Gegenwind – dann sogar vorwärts durch eine sich rückwärts bewegende Welt. Im Laufe der Ereignisse wird vieles wiederkehren, ein Film, von vorne wie von hinten. „Wir retten die Welt vor dem, was hätte sein können“, sagt Washingtons herrlich schmallippig von Robert Pattinson gespielter Oberphysik-Buddy. Touché!

Nolan hat einmal gesagt, er wolle das Kino transzendieren. Und es ist erstaunlich, wie er mit jedem neuen Film Welten erschafft, die es so bisher noch nicht gab. Das gilt ohne Frage auch für Tenet. Sicher: Viele werden hier mehr denn je das Standardargument auspacken, Nolan sei ein unterkühlter Filmemacher. Trotz eines emotionalen Fundaments hat der komplizierte Physikthriller wenig Zeit für Zwischenmenschliches und ist dahingehend eher auf Kühlschranktemperatur. But hey: It’s science!

Dass Nolan klassische Motive – die bösen Russen, die Heldenamerikaner, Liebe ist stärker als alles – vermengt zu etwas Neuem, Exzentrischem, Eigenem, ist nur konsequent. Tenet ist selbst eine filmhistorische Inversion. In diesem Sinne: Wir sehen uns gestern.

Tenet Christopher Nolan Großbritannien/USA 2020, 150 Minuten

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