Noch Ende Mai sah es so aus, als würde Italien über den Sommer wieder einmal von einem „Gabinetto Balneare“ (Badekabinett) regiert werden. Diese Einrichtung hat in Zeiten der christdemokratisch geprägten Ersten Republik gut funktioniert, auch wenn die Kurzlebigkeit der jeweiligen Regierungen anderswo als Beweis politischer Instabilität missverstanden wurde. Aktuell allerdings hätte eine überparteiliche Technokraten-Regierung mit begrenzter Laufzeit tatsächlich nichts anderes signalisiert als Stillstand – mit entsprechenden Wirkungen auf internationaler Ebene, innerhalb der Europäischen Union, der NATO und vor allem auf den Finanzmärkten. Schon deshalb ließ Staatspräsident Sergio Mattarella bis zuletzt die Tür offen für eine Lösung, die schon erledigt schien und dann doch noch Wirklichkeit wurde: eine Regierung unter dem parteilosen, der Fünf-Sterne-Bewegung nahestehenden Juristen Giuseppe Conte, der sich selbst als „Anwalt der Menschen“ sieht.
Möglich wurde die späte „gelb-grüne“ Regierungsbildung auch deshalb, weil die beteiligten Parteien – der Movimento 5 Stelle (M5S) und die Lega – sich letztlich zu einer realistischen Einschätzung des derzeit Machbaren durchrangen. Die Fünf Sterne – in Gestalt von Luigi Di Maio und seinem Führungsstab – leitete besonders die Einsicht, dass eine so günstige Gelegenheit zum Regieren so schnell nicht wiederkommen würde. „Jetzt oder nie“ hieß ihre Devise. Etwas weniger vorhersehbar agierte die Lega. Matteo Salvinis ultimative Forderung an Mattarella, den „europafeindlichen“ Professor Paolo Savona als Wirtschaftsminister zu akzeptieren, ließ sich nicht durchsetzen. Nun wird Savona Minister für EU-Angelegenheiten – ein Kompromiss, bei dem alle Beteiligten das Gesicht wahren. Salvinis taktischer Rückzug hält seiner Partei für die Zukunft alle Optionen offen. Bei Neuwahlen, die jetzt erst einmal vom Tisch sind, könnte er das Rechtsbündnis neu beleben, das am 4. März auf 37 Prozent der Stimmen kam: eine Koalition mit Silvio Berlusconis Forza Italia und Giorgia Melonis extrem rechten Fratelli d’Italia. Anders als noch im März wäre Salvini nun aber von vornherein unumstrittener Anführer des Rechtsblocks.
In Umfragen hat die Lega weiter zugelegt. Das ist kein Zufall. Salvini präsentierte sich in den vergangenen Wochen als entschlossener Politiker, der starke Worte mit flexibler Realpolitik zu kombinieren versteht. So warnte er einerseits vor finsteren Mächten in Brüssel und Berlin, die Italien knechten wollten. Andererseits ging er auf Distanz zu Di Maio, als dieser ein Amtsenthebungsverfahren gegen Mattarella verlangte. Auch auf sein Ansinnen, die Fratelli d’Italia an der Regierung zu beteiligen, verzichtete Salvini, als die Fünf Sterne dagegen ihr Veto einlegten.
Dabei schien die Rollenverteilung anfangs klar: Bei 32 Prozent für die Fünf Sterne und 17 Prozent für die Lega konnte Salvini nur Di Maios Juniorpartner sein. Nun sind beide gleichberechtigte Vizepremiers unter Giuseppe Conte, der die Regierung eher moderieren als führen wird. Di Maio steht zwar an der Spitze des „Superministeriums“ für Arbeit, Soziales und Entwicklung, während Salvini „nur“ das Innenressort leitet. Aber gerade die Fülle an Kompetenzen und die damit verbundenen Erwartungen dürften für Di Maio noch zur Belastung werden. Denn die versprochenen Sozialreformen in seinem Zuständigkeitsbereich würden sehr viel Geld kosten – zu viel Geld. Das gilt etwa für die Rücknahme der unter dem Premierminister Mario Monti 2011 eingeführten Verschärfungen der Rentengesetzgebung. Künftig soll hier eine „Quote 100“ gelten: Anspruch auf Altersrente hat, wessen Lebensalter und Zahl der Beitragsjahre addiert mindestens 100 ergibt. Auch die fälschlich „Bürgereinkommen“ (reddito di cittadinanza) genannte Unterstützung für Erwerbslose in Höhe von 780 Euro für maximal zwei Jahre wird teuer werden. Und dann ist da noch das Projekt Flat Tax mit nur noch zwei Einkommenssteuerklassen von 15 und 20 Prozent; der geltende Spitzensteuersatz liegt bei 43 Prozent. Experten haben errechnet, dass alle versprochenen Reformen zusammengenommen jährlich etwa 130 Milliarden Euro zusätzlich erfordern würden. Da dürfte manches, was sich die „Regierung des Wandels“ (Eigenbezeichnung) vorgenommen hat, erst einmal auf dem Papier bleiben.
Für Salvinis Programm gilt der Finanzierungsvorbehalt weit weniger. Die von ihm angekündigten Sofortmaßnahmen sind unbedingt ernst zu nehmen. So will er jegliche Landung von Flüchtlingsbooten an Italiens Küsten unterbinden, Fluchthilfe-Initiativen weiter kriminalisieren und massenhaft Geflüchtete abschieben. Bislang geduldete Lager von Roma sollen ebenso geräumt werden wie besetzte Häuser in den italienischen Metropolen. Wer sich dem widersetzt, wird mit dem Polizeiknüppel Bekanntschaft machen – genauer: mit „nicht tödlichen Waffen“ auf neuestem technischen Stand, heißt es in Abschnitt 23 über „Sicherheit, Legalität und Ordnungskräfte“ im 57 Seiten umfassenden Regierungsprogramm.
Die Fünf Sterne, die „nicht links und nicht rechts“ sein wollen, tragen all das mit. Nachdem Di Maio die Hysterie über einen weiteren Sommer der Migration mit Tiraden über die „Meerestaxis“ der Hilfsorganisationen weiter angeheizt hat, marschiert die Fünf-Sterne-Basis neuerdings unter der Trikolore und singt die Nationalhymne. „Italy first“ erscheint als der Slogan, unter dem sich Fünf Sterne und Lega zusammenfinden. Nicht auszuschließen, dass diese Allianz der – vor allem sozial und kulturell – immer noch ungleichen Partner die gesamte fünfjährige Legislaturperiode überdauert.
Antideutsche Rhetorik
Ob sich damit eine „Dritte Republik“ etabliert, ist offen. Zusammensetzung und Rhetorik der neuen Regierung deuten zwar auf eine Zäsur, vieles spricht aber auch für Kontinuität. Unter Silvio Berlusconi und seinen rechten Bündnispartnern – Lega Nord und Alleanza Nazionale – war in Italien schon einmal „der Populismus“ an der Macht. Und auch der Regierungsstil des sozialdemokratischen Volkstribuns Matteo Renzi war von populistischen Elementen geprägt. Dazu gehörten seine Selbstinszenierung als einsamer Macher, die Polemik gegen das politische Establishment, das Projekt einer „Partei der Nation“. Auch „antideutsche“ Rhetorik ist keine neue Erscheinung. Namentlich Renzi rühmte sich gern, Angela Merkels Versuche der „Fernsteuerung“ Italiens erfolgreich abgewehrt zu haben.
Also alles schon gehabt, alles nicht so schlimm? Keineswegs. Der Amtsantritt des gelb-grünen Kabinetts markiert einen weiteren Schritt nach rechts, und das in einem europäischen Kernland. Das ist Wasser auf die Mühlen der Regierungen in Warschau, Budapest und Wien, auch Marine Le Pens Begeisterung kommt von Herzen. Umso schlimmer, dass sich die Bedenken in den EU-Gremien fast ausschließlich gegen eine weiter steigende italienische Verschuldung richten oder gegen einen möglicherweise moderateren Kurs Roms gegenüber Russland. Dabei hätte die schwache Opposition in Italien Beistand von außen dringend nötig. Die Überlegungen im Partito Democratico, als demonstrativ pro-europäische Kraft neues Profil zu gewinnen, dürften ins Leere laufen. Die vielen bald enttäuschten Wähler der Fünf Sterne wird man damit nicht zurückgewinnen können.
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