Binnen Stunden führte die Suche nach den Schuldigen zum Ergebnis: Die volle Verantwortung für den Einsturz des Ponte Morandi in Genua, bei dem 43 Menschen starben, trage die private Betreibergesellschaft Autostrade per l’Italia. Ihr müsse sofort die Konzession entzogen werden, so der parteilose Ministerpräsident Giuseppe Conte. Dabei ist die Schuldfrage längst nicht geklärt, und eine derart rigide Maßnahme, falls überhaupt juristisch zulässig, kann ziemlich lange dauern und mindestens zehn Milliarden Euro Entschädigung kosten.
Mitschuldig, so das Quartett aus Premier Conte, seinen beiden Stellvertretern Luigi Di Maio (Fünf-Sterne-Bewegung) und Matteo Salvini (Lega) sowie dem zuständigen Minister Danilo Toninelli (Fünf Sterne), seien aber auch Vorgängerregierungen, mit anderen Worten: „die Linke“. So habe Matteo Renzi (Partito Democratico), zwischen 2014 und 2017 Ministerpräsident für tausend Tage, vom Hauptaktionär der Autobahngesellschaft Geld bekommen: der Benetton-Familie. Die verdient über den Atlantia-Konzern, zu dem auch Autostrade per l’Italia gehört, an Autobahnen und Flughäfen in mehreren Ländern. Eine Benetton-Renzi-Verschwörung ist dennoch nicht nachweisbar: Renzi bestreitet, Geld bekommen zu haben, während die Lega in der Vergangenheit nachweislich von Zuwendungen der Industriellenfamilie aus dem Veneto profitierte.
Ihre Zeit war abgelaufen
Innenminister Salvini machte noch am Tag des Unglücks auch die EU verantwortlich: Ihre Sparauflagen hätten eine wirksame Wartung der Brücke verhindert. Er verschweigt, dass über die Einzeletats innerhalb der jeweiligen Sparhaushalte das italienische Parlament selbstständig entscheidet. 1999 beschloss der Gesetzgeber die Privatisierung der Autobahnen. Damals regierte eine Mitte-links-Koalition unter dem Regierungschef Massimo D’Alema, die 2001 vom Rechtsblock Silvio Berlusconis abgelöst wurde. Mit dabei bis 2006 und noch einmal zwischen 2008 und 2011 war in dieser Allianz die Lega Nord (mittlerweile nur noch Lega), die heute jede Verantwortung für die seit Jahrzehnten verfehlte Verkehrs- und Infrastrukturpolitik von sich weist. Nur sang die Lega, früher und lauter als die politische Konkurrenz, das Hohelied sich selbst regulierender Märkte, die ohne Einmischung des Staates bleiben sollten. Richtig ist aber auch, dass die seit 1996 mehrfach regierenden Mitte-links-Koalitionen die Marktfundamentalisten gewähren ließen. Die jetzt für den Brückeneinsturz verantwortlich gemachte Firma Autostrade per l’Italia erhielt die Konzession 2007, als Romano Prodi ein Mitte-links-Bündnis führte. 2015, unter Matteo Renzi, wurde die Konzession bis 2042 verlängert.
Klügere Kommentatoren verzichten wohlweislich darauf, die Verantwortung für den Brückeneinsturz parteipolitisch zuzuordnen. Ihre Kritik richtet sich eher gegen Umweltschützer, die sich modernen, angeblich sicheren Großprojekten widersetzen und damit wirtschaftlichen Fortschritt blockieren würden. Tatsächlich wird in Genua seit Jahrzehnten über eine neue Autobahn gestritten: la Gronda. Jedoch war dieses Projekt nie als Ersatz für den Ponte Morandi, sondern als Ergänzung gedacht. Der Vorwurf, die La-Gronda-Gegner trügen eine Mitverantwortung für den Einsturz der Morandi-Brücke, läuft also ins Leere.
Nach dem Urteil unabhängiger Experten ergibt sich ein anderes Bild: Die Brücke war von vornherein eine Fehlkonstruktion. Die Betonummantelung der tragenden Stahlelemente schützt nicht vor Verschleiß, sondern machte diesen nur weitgehend unsichtbar. Bestenfalls war eine maximale Lebensdauer der 1967 eingeweihten Hochstraße von 50 Jahren zu erwarten. In den Jahren der Wachstumseuphorie und der massenhaften Automobilisierung war das den politisch Verantwortlichen offensichtlich egal. Dass später einmal 4.000 Trucks pro Tag über die Morandi-Brücke fahren würden, war freilich auch in den Boomjahren nicht vorhersehbar. Der gigantische Warenverkehr auf der Straße ist das Ergebnis des modernisierten Kapitalismus mit seiner Just-in-time-Produktion: Wenn die Lagerung von Produktteilen und Rohmaterialien extrem klein gehalten wird, werden Lkws zu rollenden Warenlagern. Das ist billig, schnell und effizient, führt aber zum Kollaps – tragischerweise nicht immer nur des Verkehrs.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit haben mangelhafte technische Wartung und unzureichende politische Aufsicht zum Desaster von Genua beigetragen. Die Betreiberfirma meldete erhebliche, aber nicht alarmierende Mängel an der Brücke. Jetzt zitieren diverse Medien genüsslich eine Äußerung auf einer Webseite der Fünf-Sterne-Bewegung, die Warnungen vor einem Einsturz als „Märchen“ abtat: Mit dieser Warnung wurde von interessierter Seite die Dringlichkeit des La-Gronda-Projekts begründet, das die Fünf Sterne ablehnen.
Hauptsache Großprojekt
Bisher jedenfalls. Was nicht nur rechte Medien als ideologischen Starrsinn abqualifizieren, ist in Wirklichkeit eine Position, die durch den Brückeneinsturz eher bestätigt als widerlegt wird: die Ablehnung neuer Großprojekte, die ungeheuer viel Geld kosten und erhebliche Umweltschäden anrichten. Dazu gehören die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin–Lyon (TAV), eine Gastrasse quer durch Apulien (TAP) oder die Brücke über den Kanal von Sizilien. Sinnvoll und dringlich wäre es stattdessen, Geld für Prävention auszugeben, um die Folgen von Erdbeben, Überschwemmungen und Erdrutschen abzumildern, marode Brücken und Straßen zu sanieren. Nach offiziellen Schätzungen wären dafür allein in den nächsten 20 Jahren 180 Milliarden Euro notwendig. Dass die amtierende „Regierung des Wandels“ sich auf diese Priorität verständigt, ist allerdings nicht zu erwarten. Wahrscheinlicher ist, dass sie weitere Großprojekte in Angriff nimmt – zumindest wenn sich, wie in der Antimigrationspolitik, auch in dieser Frage die Lega durchsetzt und die Fünf Sterne ihr hinterhertrotten.
Immerhin haben Letztere, inmitten der Polemik um die Schuldigen von Genua, eines ihrer Grundanliegen wiederentdeckt: die Abkehr von Privatisierungen grundlegender Infrastruktur. Die jetzt von Di Maio ins Spiel gebrachte Verstaatlichung der Autobahnen wäre dazu ein erster Schritt. Die dafür nötige parlamentarische Prozedur aber kann lange dauern; vielleicht zu lange.
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