Post War: Die Konturen einer neuen Weltordnung zeichnen sich ab

Globale Wirtschaft Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine zeichnen sich die Konturen einer neuen Weltordnung ab.

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Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine zeichnen sich am Horizont die Konturen einer neuen Weltordnung ab. Zu möglichen Ausgängen des Krieges sind in Foreign Affairs zwei sehr bemerkenswerte Artikel erschienen:

What if Russia wins & What if Russia loses

Beide Artikel lassen nicht darauf schließen, dass die Welt wieder diejenige sein wird, die wir hatten; ob der Westen unabhängig vom Ausgang des Krieges vor gewaltigen Problemen steht ist eigentlich kaum noch eine Frage.

Die Illusion der UN Abstimmung und des Zusammenhalts

Seit geraumer Zeit ist zu lesen, dass der Westen als gemeinsame Front gegen Russland steht und das Russland zunehmend isoliert in der Welt sei. Das permanente Wiederholen dessen sollte einen schon stutzig machen, werfen wir einen Blick auf die Fakten und deren mögliche Interpretation.

Auch wenn die Annahme der Resolution der UN Generalversammlung hierzulande als großer Erfolg verbucht wurde, lohnt es sich doch einen Blick auf die Länder zu werfen, die diese nicht unterstützten, sei es durch Enthaltung oder durch Gegenvotum. Es sollte unmittelbar auffallen, dass nahezu alle BRICS - Staaten sich enthielten; einzig Brasilien votierte für die Resolution, das Abstimmungsverhalten war bis kurz vor der Resolution nicht klar. Besonderes Augenmerk soll auch auf das Abstimmungsverhalten der afrikanischen Staaten gelenkt werden: insgesamt 17 vom 55 Staaten weigerten sich, die russische Intervention in der Ukraine zu verurteilen.

Summarisch lässt sich aus dem Abstimmungsverhalten folgendes herleiten:

Die Staaten, die den Großteil der Weltbevölkerung stellen, haben sich der Resolution nicht angeschlossen.

Die Staaten, die den Großteil der Fläche stellen, haben sich der Resolution nicht angeschlossen.

Die Länder mit dem größten Handelsbilanzüberschuss haben sich der Resolution nicht angeschlossen.

Die Länder mit dem Bruttoinlandsprodukt im globalen Vergleich an der Rangfolge 2,6,11 (China, Indien, Russland) haben sich der Resolution nicht angeschlossen.

Ohne mit weiterem Zahlenmaterial aufwarten zu wollen, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass die Binnenachfrage in Indien und China stark zunehmen und die schiere Anzahl potentieller Käufer in beiden Ländern eine Verschiebung der globalen Nachfrage zumindest als möglich - wenn nicht als sehr wahrscheinlich - erscheinen lässt. In einer Projektion über die nächste Dekade wird sich dieses manifestieren. Unmittelbar an dieses anschließend sollte die Frage beantwortet werden, woher diese Länder die notwendigen Resourcen dafür nehmen, sei es Energie in Form von Primärenergieträgern, Metallen oder schlicht Nahrung in Form von Weizen. Die Antwort sollte offensichtlich sein.

Auch wenn man Vladimir Putin, Xi Jinpin, Narenda Modi, Jair Bolsonaro und Cyril Ramaphosa zweifelsohne im Lager der Demokraten oder der Liberalen oder der Freunde der Menschenrechte oder des Völkerrechts wohl kaum ernsthaft verorten kann, bleibt die Tatsache, dass sie zusammen eine ernstzunehmende globale Macht verkörpern. Auch lassen sich für endogene Veränderungen der Machtverhältnisse in Russland oder China kaum ernstzunehmende Indikatoren ausmachen; Veränderungen durch exogene Faktoren bei Nuklearmächten können wohl vollkommen ausgeschlossen werden.

Wie man aus den dargestellten Fakten einen triumphalen Erfolg gegen Russland herleiten kann, erschließt sich dem Autor nicht; es scheint vielmehr eine neue globale Blockstruktur durch.

Innereuropäische Solidarität vor dem Hintergrund von Resourcenknappheit und Flüchtlingsströmen

Die letzten Jahre als die Jahre geprägt von innereuropäischer Solidarität anzusehen, verschließt die Augen vor der Realität. Prominentestes Beispiel ist der durch populistische Strömungen getriggerte Brexit mit all seinen wirtschaftlichen Implikationen und den politischen Implikationen - bspw. an der Binnengrenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. Eingeleitete Verfahren hinsichtlich der Rechtstaatlichkeit Ungarns und Polens mit dem verbundenen Streit hinsichtlich der Allokation der von der EU bereitgestellten Finanzmittel zur Überwindung der Coronakrise lassen nichts Gutes für die Zukunft vermuten. Ganz offensichtlich überstrahlt der Krieg in der Ukraine vorhandene, gravierende Probleme in der EU.

Auch scheint vergessen, dass die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 tiefe Risse in Europa überdeutlich aufzeigte. Zur Erinnerung: die Zahl der nach Europa eingereisten Asylbewerber hatte 2014 bereits 627.000 betragen, verdoppelte sich fast auf über 1,3 Mio. im Jahr 2015 und lag 2016 nochmals bei 1,26 Mio., von denen ein erheblicher Teil bereits 2015 eingereist war, aber verspätet erfasst wurde (zitiert aus wikipedia).
Die reine Addition der Zahlen zeigt, dass in den Jahren 2014 bis 2016 rund 3,3 Millionen Flüchtlinge in Europa angekommen waren. Die Konsequenzen dieser Krise lassen sich staatsübergreifend u. A. auch an den Verletzungen des Dublin-Abkommens und des Schengen-Abkommens ablesen, innereuropäische Solidarität war für viele Staaten - Deutschland hiervon nicht ausgenommen, hatte man doch die Probleme Italiens in den Jahren davor ignoriert - ein Fremdwort geworden. Die solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas ist auch nach einer Vielzahl von Anläufen an Partikularinteressen von Einzelstaaten gescheitert.

Mit der Flüchtlingskrise einhergehend war ein starker Anstieg der Popularität rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien in Europa. Die Rolle Russlands hierbei kann nicht übersehen werden. Nur wer blind ist nimmt nicht zur Kenntnis, dass AfD, FPÖ und Rassemblement Nationale sowie Lega Nord über dubiose Kanäle teilweise erhebliche Mittel erhalten haben.

Mit der Flüchtlingskrise einhergehend waren Kosten, deren genaue Quantifizierung schwierig ist. Einen Eindruck verschaffen kann der Bericht der Bundesregierung aus dem Jahre 2018. In diesem heißt es, dass der Bund 2018 die Kommunen mit 7,5 Milliarden Euro für die Kosten der Flüchtlings- und Integrationsarbeit unterstützt. Darüber hinaus kamen Ausgaben in Höhe von 15,5 Milliarden Euro hinzu, an denen sich die Länder nicht beteiligten.

Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine beläuft sich in der zweiten Woche des Krieges bereits auf geschätzte 2,5 Millionen. Es sei vollkommen unbestritten, dass dieses Leid durch den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine resultiert; die Solidarität mit den Flüchtlingen ist eines der höchsten Güter der EU, ihrer Einzelstaaten und der Bürger. Dennoch sollte nicht unbeachtet bleiben, dass die Zahl der Flüchtlinge sich dramatisch der Gesamtzahl der Flüchtlinge der Flüchtlingskrise von 2015 annähert, doch dieses nur im Zeitraum weniger Wochen.

Nochmals: der Autor will weder die Sozialsysteme noch das Asylrecht in Frage stellen; letzteres ist Ausdruck der Humanität, einem der wichtigsten Werte der EU.

Wenn man gerechtfertigterweise unterstellt, dass die sich abzeichnende Flüchtlingskrise erhebliche Auswirkungen auf die Haushalte der Einzelstaaten haben werden, dann sollte unbedingt ein Blick auf die wirtschaftlichen Perspektiven geworfen werden.

Vor dem Hintergrund der ständig verschärften Sanktionen gegen Russland und dem zunehmenden Bewustsein der starken Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Lieferungen aus Russland erscheint die aktuelle Politik zunehmend als hilflos. Da wird das "Frieren für den Frieden" seitens Teilen der Politik postuliert, vollkommen ignorierend, dass die Privathaushalte nur einen geringen Teil des Energiekonsums ausmachen.
Wesentlich stärker ist die deutsche Industrie in ihrer Gesamtheit betroffen, denn Gas benötigt man an weitaus mehr Orten und zur Herstellung von weitaus mehr Produkten, als gemeinhin im Bewustsein angekommen - exemplarisch sei hier Stickstoffdünger genannt (hierzu später mehr).

Die explodierenden Energiepreise stellen die gesamte Lieferkette vor nahezu unlösbare Probleme, jahrelang wurden die Läger auf die Strasse verlegt und die Treibstoffpreise für Diesel stellen Spediteure vor unlösbare Aufgaben. Die Implikationen dessen für die Industrie sind dramatisch. Auch wenn die Politik diese Problem addressiert und die zunehmende Unabhängigkeit von russischen Öl-, Kohle- und Gaslieferungen anstrebt, die erneuerbaren Energien schnell ausbauen will, so erscheint eine Lösung innerhalb der nächsten zwei Jahre vollkommen unrealistisch - eher sogar im Wünschen und Träumen verortet.
In dieser Betrachtung noch nicht enthalten sind die Konsequenzen von Lieferausfällen für Nickel, Aluminium, Titan und Palladium für die Produktion und letztendlich auch den Export von Produkten im Bereich der Hochtechnologie. Die Lieferländer hierfür sind ...

Es gilt praktisch schon als sicher, dass der Krieg in der Ukraine die deutsche Wirtschaft - der drittgrößten globalen Ökonomie - empfindlich treffen wird. Hierbei ist das Wirtschaftswachstum nur ein Teilaspekt, die Teuerungsraten hat wohl jeder mitbekommen und es sollte im Gedächtnis bleiben, dass wir durchaus noch aus Russland beliefert werden. Ein Stop dieser Lieferungen - gleichgültig von welcher Seite - würde einen Schock für die Wirtschaft bedeuten - Ich will mich hier ausdrücklich nicht jeder düsteren Prognosen anschließen, aber das alles beschriebene ohne Auswirkungen bleibt kann wohl ausgeschlossen werden. Auch sollte aufgefallen sein, dass die Kosten für die notwendige Aufrüstung des Militärs nicht in die Betrachtung eingeflossen sind. Besser wird die Situation hierdurch keinesfalls.

Wenn die Konsequenzen für Deutschland - dem Land mit den besten Ratings und der besten Bonität - gravierend sind, wie mögen die Konsequenzen für Länder wie Rumänien und Bulgarien erst aussehen; diese sind bspw. im Falle Bulgariens zu 90% auf russische Energielieferungen angewiesen. Die Vermutung liegt nahe, dass die EU nicht sehr lange mit einer Stimme sprechen wird. In der Vergangenheit war es nicht so und im Zuge der aktuellen Entwicklungen erscheint es wünschenswert doch fraglich. Die Entwicklungen lassen es als ungewiss erscheinen, ob die verbleibenden Ressourcen ausreichen das anzugehen, von dessen Notwendigkeit nun wirklich jeder überzeugt sein sollte: der Klimawandel. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass Themen wie die Entwicklungshilfe nicht unbedingt Priorität genießen werden.

Afrika (und die arabischen und asiatischen Länder): Hunger als Mittel der Politik

Offensichtlich hat man bei der westlichen Nabelschau und dem Ringen um die größtmöglichen Sanktionen um Russland zum Einlenken zu zwingen eines vollkommen vergessen: Es gibt auch eine Welt um uns herum, sie ist größer und in ihr leben mehr Menschen. Wie außer dem Ignorieren dieser Tatsache ist es sonst zu erklären, dass man an den Grundfesten des globalen Finanzsystems rüttelt und eine globale Supermacht von den Finanzströmen versucht zu isolieren ohne die Implikationen für den Rest der Welt zu beachten.
Um die Bedeutung von SWIFT zu erahnen, die folgenden Fakten: SWIFT leitet Transaktionen zwischen ca. 11.000 Banken, Brokerhäusern, Börsen und anderen Finanzinstituten in etwa 200 Ländern über SWIFT-Nachrichten weiter und wickelt damit den gesicherten Nachrichten- und Zahlungsverkehr der angeschlossenen Firmen und Institutionen ab.

Während das im Falle des Iran vielleicht noch halbwegs funktionieren konnte, der Kauf von Gütern des Irans durch andere Verkäufer substituierbar war, muss man doch erkennen, dass Russland zweifelsohne in einer anderen Liga spielt. Einen global Player zu isolieren, obendrein, wenn er und das von ihm überfallene Land rund 30% des globalen Weizenhandels abwicklen und ein Großteil des global gehandelten Düngers liefert, dann sollte doch die Frage angebracht sein: Wie sollen Staaten diese überlebenswichtigen Einfuhren überhaupt bezahlen, wenn nicht über ein funktionierendes globales Transaktionssystem wie SWIFT?

Besonders perfide wird die Situation dadurch, dass man die aus westlicher Sicht für den Öl- und Gasimport notwendigen Banken von dieser Sanktion ausnimmt - wobei es sich der Kenntnis des Autors entzieht, ob über diese Banken bspw. auch Weizen und Dünger mit Drittländern gehandelt werden.

Auch wenn Brasilien geographisch nicht in den Regionen der Überschrift verortet ist, eignet es sich um die Konsequenzen darzustellen. Brasilien importiert Dünger nahezu zu 100% aus Russland und verkauft seine Sojaernte zu fast 100% an China. Wie können wir erwarten, dass dieses Land die resultierenden wirtschaftlichen Implikationen aus der aus brasilianischen Sicht "Privatfehde" mitträgt? Wo Hunger droht, interessiert Demokratie nur untergeordnet. Maslow wusste das.

Noch dramatischer wird die Situation für die Länder Afrikas. Auch wenn es hierbei um wirtschaftlich stabile Länder wie Marokko geht, um eher zweifelhafte Kandidaten wie Ägypten oder um die Staaten des ohnehin schon von der Klimakrise und Unruhen (vulgo: (Bürger-)Kriegen) geprägten Ländern Ostafrikas - eines haben sie gemeinsam: einen Hunger, welcher nur durch russische Lieferungen gestillt werden kann. Die Welthungerhilfe schlägt schon Alarm, Millionen Menschen sind direkt durch Hunger bedroht. Es ist nicht auszumalen, wie dort Hunger und Klimawandel ineinandergreifen und zu politischer Instabilität der Länder, zu Kriegen um die verbleibenen Ressourcen und zu Migrationsbewegungen ungeahnten Ausmaßes führen können.

Der Verdacht liegt nahe, dass Russland und China sich dort stärker engagieren und Hunger politisch instrumentalisieren. Während das Engagement Chinas in Afrika ja mittlerweile bekannt sein dürfte, ist das Engagement Russlands dort weitgehend unbeachtet geblieben. 13 Prozent aller seiner Rüstungsexporte liefert Russland nach Afrika, Tendenz stark steigend. Rund 50.000 Mann stehen in Afrika unter dem Kommando Russlands -weitestgehend Söldner der berüchtigten Wagner-Gruppe. Angemerkt sei, dass diese Zahl eher mit Vorsicht zu genießen ist, da sie sich nicht verifizieren lasst.

Doch nicht nur militärisch ist Russland in Afrika engagiert. Von 2005 bis 2015 hat Russland seine Direktinvestitionen in Afrika um 185 Prozent erhöht. Wirtschaftliche Interessen umfassen hierbei: Atomenergie , Gesundheitsprojekte, Telekommunikation, Verschlüsselung von Regierungsdaten, Flughafen- und Grenzsicherung sowie Öl und Gas. Dieses und in Addition Chinas zu diesen Aktivitäten lässt vermuten, dass die viele Länder Afrikas den Weg der Kooperation mit Russland und China wählen und die Akzeptanz von uns verhängter Sanktionen gegen Russland nicht von Dauer - sofern je vorhanden - sein werden.

Von den Ländern des arabischen Halbmondes wie Syrien, dem Iran oder dem Irak zu sprechen erübrigt sich, die jüngste Geschichte ist wahrscheinlich jedem bestens vertraut.

Quo vadis USA?

Eine Betrachtung der existierenden Weltordnung wäre unvollständig, würden die USA nicht in die Betrachtung miteinbezogen.

Die rein wirtschaftlichen Fakten in den USA besagen, dass die Staatsverschuldung in 2020 gigantische 28 Billionen USD betragen hat; die Verschuldungsquote beträgt rund 134%. Im Vergleich dazu beträgt die Verschuldungsquote in den EU-Ländern (ohne UK) runde 90%. Zu beachten ist das sich abzeichnende Ende der Niedrigzinspolitik der amerikanischen Notenbank. Ein fortgesetzt defizitärer Haushalt führt zu einer immer absurderen Zinslast im Verhältnis zu den Staatseinnahme; Schulden kosten Geld. Das Budget Office in Washington hat solche Berechnungen angestellt. Danach wird die Zinslast bis 2020 von neun auf 20 Prozent des Staatseinkommens wachsen, weiter auf 36 Prozent bis 2030, auf 58 Prozent bis 2040 und auf 85 Prozent bis 2050. Dieses schränkt den wirtschaftlichen Gestaltungsspielraum der US-Politik jetzt und in Zukunft deutlich ein. Am Rande sei erwähnt, dass China einer der Hauptgläubiger der USA ist und Russland gerade mal einen Verschuldungsgrad von rund 14% gemessen am Bruttoinlandsprodukt aufweist.

Ein Zusammenhang zwischen Staatsschulden und Inflation wird kontrovers diskutiert; sicher ist jedoch, dass die Inflation auch schon vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine in den USA gestiegen ist und sich jetzt der 10% Marke annähert. Das Dilemma ist, dass die Erhöhung der Zinsen durch die FED als Mittel der Inflationsbekämpfung somit direkten Einfluß auf die Gestaltungsspielräume der Politik hat.

Auch wenn die beschriebenen Sachverhalte nicht in Richtung Staatspleite USA deuten - dafür werden die Staatsanleihen der USA zu gut gehandelt - schränkt sich der Handlungsspielraum der Regierung doch merklich ein. Im Grunde geht es doch um Aufrüstung versus Sozial- und Infrastrukturprogramme. Erschwerend kommt hinzu, dass das Vertrauen in amerikanische Staatsanleihen durch das Einfrieren russischen Vermögens nicht unbedingt Rückenwind bekommen hat.

Der Slogan "America first" kam ja nicht aus dem Nichts. Wenn auch jeder unter diesem Slogan verstehen möchte, was er wolle, steht doch eine Refokussierung der USA auf sich selber auf der Agenda. Auch wenn Biden versucht, der NATO neues Leben einzuhauchen, sollte doch nicht vergessen werden, dass er hierfür nur beschränkte Mittel hat. Auch sollte die Kriegsmüdigkeit der amerikanischen Bevölkerung nach 20 Jahren erfolgloser und teurer Kriege im Irak und in Afghanistan nicht unterschätzt werden. Ob seitens der Bevölkerung so kurz vor den Midterms und bei der hohen Inflationsrate eine Zustimmung für militärisches Engagement zu wecken sein wird? Manche sagen so, manche sagen so ...

Conclusio

Auch wenn manches aus dem obigen fast schon apokalyptisch klingt, so sollte der Versuch einer stringenten Argumentation erkennbar sein. In einer der großen Tageszeitungen war jüngst zu lesen, die Veränderungen wären "tektonisch"; leider teile ich diese Einschätzung und möchte ergänzen, dass wir uns an einer der Bruchkanten der Kontinentalplatten wiederfinden; nur ist die Ausgangssituation für uns deutlich schlechter als noch zu den Zeiten des Kalten Krieges.

Das folgende Zitat aus mir entfallener Quelle geht mir nicht aus dem Sinn. Dieses lautet sinngemäß:

"Es will mir nicht in den Kopf, dass die heutige Generation, die den Krieg aus den Erzählungen der Großeltern kennt und den kalten Krieg aus den Erzählungen der Eltern, von der vermuteten eigenen moralischen Überlegenheit besoffen, diese Erzählungen unbedingt an der eigenen Vita verifizieren möchte."

Ich bitte den Beitrag als (privaten) Appell dahingehend zu verstehen, dass Nüchternheit und Pragmatismus wieder in das politische Handeln einzieht und wir uns bitte bedenken sollten, das wir von dem Baum der Empörung - egal wie berechtigt sie aktuell erscheinent - irgendwann auch wieder einen Weg hinab finden müssen. Vieles von dem Dargestellten ist noch nicht geschehen, die Wahrscheinlichkeiten, dass es geschieht, sofern wir auch unser Handeln nicht kritisch reflektieren und pragmatisch handeln, sind aber nach meinem Dafürhalten sehr groß. Alles Beschriebene kann man anders sehen, schön wäre es, ich würde mich irren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JFSebastian

„Strahlend feurig stiegen die Engel. Tiefer Donner rollte um ihre Küsten, brennend mit den Feuern von Orc.“ --- W. Blake, America: A Prophecy (1793)

JFSebastian

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