Ganz Deutschland ein Angstraum

KOMMENTAR Zahl der Telefonüberwachungen um ein Drittel gestiegen

Alle Jahre wieder treten die Datenschutzbeauftragten zum Jahresende vor die Öffentlichkeit und vermelden steigende Zahlen. Auch dieses Jahr. Allein richterlich angeordnete Telefonüberwachungen seien 1999 von 9.800 auf 12.600 gestiegen, also fast um ein Drittel, gab Joachim Jacob, der Bundesbeauftragte Anfang der Woche bekannt. Der Spitzenplatz, den Deutschland schon seit den Neunzigern bei der Überwachung seiner Bürger weltweit hält, ist damit ungefährdet verteidigt worden. Und das, obwohl die genaue Zahl der abgehörten Apparate nicht bekannt ist, manchmal ist es nur einer, bei großen Ermittlungen können es bis zu 40.000 sein.

Rasterfahndung, Telefonüberwachung, zuletzt der große Lauschangriff, die technischen Grenzen für die Ausforschung der Bevölkerung fallen immer schneller und damit auch die rechtlichen und ethischen. In Deutschland fallen sie besonders schnell. Auch die nächste Wunderwaffe hat schon ihren Siegeszug angetreten. Ganz Deutschland ist ein Angstraum. Längst gibt es in unseren Städten mehr Videokameras als in englischen, den Titel Mutterland der Linse hat das Königreich damit schon verloren, den sich die Insel nicht nur wegen Orwell sondern auch wegen der aus den Überwachungsbändern produzierten, beliebten TV-Shows erarbeitet hatte. Für Deutschland müsste jetzt der Verweis auf Big Brother kommen und die Erklärung, wie die Container-Show das Datenschutzbewusstsein zertrümmert habe. Und wer kann den Begriff informationelle Selbstbestimmung - 1987 noch in aller Munde - überhaupt noch buchstabieren? Aber Big Brother hat doch einen wichtigen Unterschied, denn hier kann jeder fast alles sehen, und eine Anlehnung an diese Transparenz fehlt im deutschen Recht noch ganz. Die USA, die immer wieder als Beispiel für die Effizienz technischer Ermittlungsmethoden angeführt werden, dienen dafür äußerst selten als Vorbild, die Überwachung auch zu beschränken. Dort genehmigen die Richter nicht nur die Überwachung, sondern kontrollieren auch deren Verlauf und die Verhältnismäßigkeit dabei. Die Zahlen werden jährlich in einem Tapwire-Report der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das sind Hürden, welche die Ermittler im Umgang mit Wanzen und Kameras sehr sparsam werden gemacht haben.

Wie alle Jahre wieder wird auch die Zeit kommen, da auch im Bundestag noch einmal mit starken Worten über ein kategorisches Ja oder Nein zur Videoüberwachung gestritten werden wird. Derweil ist sie, wie auch schon im Falle des Lauschangriffs, schon über die Polizeigesetze der Länder Alltag auf unseren Straßen geworden. Anstatt sich zum Fenster heraus der Macht des Faktischen zu beugen, sollten die Parlamentarier lieber nachdenken, wie sie der hypertrophen Überwachungsmentalität in diesem Lande subtil die Zähne ziehen könnten.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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