Auch an der Ernährung ist das Coronavirus nicht spurlos vorübergegangen. Die identitätspolitischen Debatten auf diesem Feld haben die Krankheit bekommen, also die einst große Frage nach dem „Du bist, was du isst“. Sie wurde schon während der ersten Welle der Pandemie zur Marginalie. Jederfrau hat das wahrscheinlich erlebt. Steht man vor halb leeren Regalen, will sich aber für ein paar Tage bevorraten, dann spielen bei der Kaufentscheidung auf einmal völlig neue Überlegungen eine Rolle: Preis, Haltbarkeit, Vielseitigkeit etwa. So wurde eine Dauerware wie Nudeln in einer Gesellschaft, die eben noch mit Gluten- und Kohlehydraten fremdelte wie nie zuvor, wieder zum Bestseller.
Aber auch auf dem politischen Feld der Ernährung verschieben sich die Gewichte. Die sozialen Fragen bekommen Auftrieb. Die Schlachthöfe haben gerade so viel mit Arbeits- und Gesundheitsaufsehern zu tun wie in Jahrzehnten nicht mit der Lebensmittelkontrolle. Weil in den beengten Behausungen schlecht bezahlter Werkvertragsarbeiter die Pandemie nicht zu beherrschen ist, steht auf einmal das ganze System in Frage. Billigfleisch macht krank, selten ist das so deutlich geworden wie während des Corona-Ausbruchs bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück.
Verlorene Unschuld
Das ist eine gute Zeit, um sich ein Buch vorzunehmen, das während der Corona-Krise erschienen ist. Weil es einen Rundgang durch all die „buzz topics“ der Ernährungsdiskussion des vergangenen Jahrzehnts macht und sich dabei nicht scheut, sich der Komplexität zu stellen, die jedes einzelne Thema mit sich bringt. Der Autor Manfred Kriener stellt schon im Vorwort fest: Je komplexer und reichhaltiger die Welt des Essens wird, je weniger Mangel und Hunger eine Rolle spielen, desto mehr wird gestritten und diskutiert, was gutes Essen ist. „Mitten im Schlaraffenland hat das Essen seine Leichtigkeit und seine Unschuld verloren.“
Und Kriener will dabei gar nicht so sehr mitstreiten. Das macht den Wert von Lecker-Land ist abgebrannt, so der folgerichtige Titel seines Buches, aus. Es reiht sich nicht in die Überzahl der moralischen Diätratgeber ein, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, sondern will einen Überblick darüber geben, was Sache ist. Das ist in seiner Bescheidenheit eine Wohltat. Das Buch ist eine nüchterne Vermessung der kulinarischen Tischordnung zu Beginn des Jahrhunderts, von A wie Avocado bis Z wie Zuckersteuer, zugleich locker geschrieben, und wenn die Gelegenheit günstig ist, hält Kriener auch mit der eigenen Meinung nicht hinterm Berg.
Natürlich geht Kriener auch auf das in mehrfacher Weise blutige Geschäft des Billigfleischs ein. Er erzählt, wie sich dieser Sektor in den vergangenen Jahren in eine gesellschaftlich akzeptierte und von der Politik unterstützte Quarantäne zurückgezogen hat, mit Schlachthöfen, die samt ihren unterbezahlten Arbeitern aus Osteuropa von der Außenwelt abgeriegelt sind. Man versteht, wie nah da der Gedanke liegt, dass solche Enklaven von der Natur der Sache her nicht als Superspreader-Orte für eine Krankheit geeignet sein können, die von Mensch zu Mensch übertragen wird. Das ist der grundsätzliche Irrtum, dem sowohl die Politik aufgesessen ist als auch die Fleischwirtschaft, noch dazu in einer Zeit, als sie auf einmal als etwas systemrelevanter galt als sonst schon. All diese Zusammenhänge macht Kriener, der sich seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Genuss, Ernährung, Politik und vor allem Wirtschaft bewegt, sehr klar.
Aufgebaut ist das Buch von groß nach klein. Es beginnt mit einer sehr lesenswerten Beschreibung der neueren Esskultur, die sich dramatisch verändert hat: „Sie ist nicht nur narzisstischer und ideologischer, sie ist auch sehr viel exotischer geworden.“ Das Handy ist inzwischen ein neues Besteckteil geworden, die Frage ums Fleisch eine von Sein oder Nichtsein. Die große Verunsicherung in Ernährungsdingen hat zugleich eine Welle von Superfoods ausgelöst, von Chia bis Weizengras, je fremdländischer, desto besser.
Nach und nach nimmt Kriener sich nun die Einzelaspekte vor und prüft die Debatten. Es kommen dabei viele ExpertInnen zu Wort, vor allem aus Soziologie, Philosophie, Ökologie und Ökonomie, das macht das Buch so instruktiv. Was ist nur Trend? Wo zeichnen sich substanzielle Veränderungen ab, zum Guten wie zum Schlechten. Das sind die Leitfragen des Autors, der die ernährungspolitischen Diskussionen seit Jahren verfolgt.
Vegan mit Spaß
Gut sichtbar wird das im Kapitel über Veganismus. Nach einer stark von Ideologisierung geprägten Phase setzen sich inzwischen pragmatischere und lustbetontere Ansätze in der Bewegung durch, die dem Autor erfolgversprechender erscheinen. Neugierig beobachtet er, welche Herausforderungen Bio zu bestehen hat: Inzwischen ist der Sektor so groß, dass industrielle Produktionsweisen bis hin zum Massenstall Einzug halten und auch Bündnisse mit dem konventionellen Handel eingegangen werden. In einer Branche, die vor 30 Jahren als Systemalternative gestartet ist, führt das zu heftigen Debatten. Kriener will das nicht verdammen. Etwas pessimistischer ist er, was die Überfischung der Meere angeht, die Debatte um die Zuckersteuer in Deutschland und, um aufs Fleisch zurückzukommen, die Globalisierung der Megaställe.
Immer wieder wird es unappetitlich. Wie soll es anders gehen, wenn man ein realistisches Bild unseres Ernährungssystems und unserer Esskultur zeichnen will? Das Buch will Skepsis und Kompetenz der Leser schulen, nicht nur gegenüber den Versprechungen der Industrie, sondern auch gegenüber den vielen zu simplen Gegenrezepten.
Info
Lecker-Land ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur Manfred Kriener S. Hirzel Verlag 2020, 238 S., 18 €
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