Zugunsten des Verdünnens von Tusche

Alexis Jenni Der französische Autor hat mit seinem Debüt einen starken Roman über das Trennen von Menschen in verfeindete Gruppen geschrieben.

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Mariani hat seine Wohnung im 18. Stock eines Plattenbaus im Lyoner Vorort Voracieux-les-Bredins ausgebaut. Sandsäcke verdecken die Fenster; das Material hochzuschaffen war richtige Schufterei. Durch die kleinen Öffnungen kann er, gemeinsam mit seinen jungen Kumpanen, ausgerüstet mit Maschinenpistole oder Sniper-Gewehr den Parkplatz und dessen Umgebung unter Kontrolle halten. Der alte Mariani leitet trotz seines italienisch klingenden Namens die SIFF, eine Bürgerwehr, die für die Dominanz der reinen Franzosen gegenüber den Eingebürgerten kämpft.

Eigentlich ist dieser Rassist nur eine Nebenfigur in Alexis Jennis Roman. In Indochina hat er Victorien Salagnon das Leben gerettet durch eine Evakuierung des Verletzten zu Fuß. Auch in Algerien war er dessen Mitkämpfer, zugleich Spezialist für Verhörtechniken. Doch Salagnon ist nicht so grob geschnitzt. Er malt lieber mit tiefschwarzer Tusche auf weißes Papier, das Verdünnen lässt auch Grautöne zu. Von diesem Hobby lässt sich der wesentlich jüngere Erzähler des Buches, einen Namen erfährt man nicht, anstecken. Er nimmt Unterricht im Zeichnen, schreibt dafür Salagnons Lebensgeschichte auf, speziell die Zeit des Zwanzigjährigen Krieges. Das sind eigentlich drei Kriege. Zunächst der Kampf als Freischärler gegen die deutsche Besatzung, dann gegen die Vietminh in Indochina, schließlich gegen den Aufstand in Algerien.

Was diese Kriege bis in die Gegenwart verlängert, nicht nur bis zum ersten Golfkrieg, mehr noch bis in die Riots der Vorstädte, jene Gegenwart gewordenen „kommenden Aufstände“ ist die Unterscheidung zwischen „wir“ und „sie“. So ist der ganze große Debütroman des fast fünfzigjährigen Autors eine Lektion über das Trennen von Menschen in Gruppen. Der Schriftsteller Jenni wie auch seine beiden Haupthelden, deren Biografien Gerüst des Buches sind, stehen dieser Selektion skeptisch gegenüber. Speziell Salagnon hat sie allerdings aktiv mitgetragen. Der Erzähler sagt gleich zu Beginn des Buches nach einem seltsamen Traum: „Als die traumatische Wirkung des Traums verflogen war, blieb mir das ››wir‹‹ des Berichts zurück. Ein unbestimmtes ››wir‹‹ durchlief diesen Traum, durchlief den Bericht, den ich davon ablegte, und beschrieb in Ermangelung eines Besseren den allgemeinen Gesichtspunkt, von dem aus der Traum erlebt wurde.“ Und 650 Seiten weiter heißt es: „Jeder hat großes Interesse daran, dass wir nichts miteinander gemein haben. Sie sind anders. Wodurch unterscheiden sie sich? Durch die Sprache und die Religion. Die Sprache? Ein Großteil der Menschheit spricht mindestens zwei. Die Religion? Ist sie so wichtig? Für sie, ja, sagen wir. Der andere ist immer irrational; wenn es einen Fanatiker gibt, dann ist es der andere.“

Stärker noch kommt der Geist des „Wir vs. Sie“ an anderen Nebenpersonen zum Ausdruck. Da ist der Onkel Salagnons, der ihn zuerst indirekt in die Résistance holt, ihm dann in jedem Krieg wieder begegnet, bis zu dem Punkt, als der Neffe Nein sagt. Das ist, als er aufgefordert wird, in den Widerstand gegen de Gaulle zu gehen, als dieser Algerien aufgeben will. Der Onkel wird hingerichtet. Und da ist Salomon Kaloyannis, griechischer Jude, der nach der Einnahme Thessaloniks durch die Griechen ins französische Algerien geflüchtet war. Denn: „Das Reich ermöglicht es, in Ruhe zu atmen, gleichgestellt und zugleich anders zu sein, ohne dass das ein Drama ist. Bürger einer Nation zu sein dagegen, setzt ein Verdienst voraus, durch die Geburt, durch die Natur seines Wesens oder durch eine pedantische Prüfung der Herkunft.“ So spricht der Arzt, später Schwiegervater Salagnons, während des Weltkrieges, als er mit einem nordafrikanischen Zuavenregiment hilft, Frankreich zu befreien. Später, als die Algerier selbst frei sein wollen, vergleicht er diese mit treuen Familienhunden, die plötzlich in die streichelnde Hand beißen.

Eigentlich ist die „französische Kunst des Krieges“ so brutal wie die jedes Krieges, auch eines britischen, deutschen, amerikanischen etc. Doch Alexis Jenni arbeitet Spezifika heraus. So bemerkt der ästhetisch sensible Salagnon schon 1944: „Das amerikanische Kriegsmaterial greift organische Formen auf, dachte er; es ist konzipiert wie eine muskelbedeckende Haut, man hat ihm Formen gegeben, die dem menschlichen Körper gut angepasst sind. Die Deutschen dagegen denken in grauen Volumen, ihr Design ist schöner, klarer und unmenschlicher, wie ein eiserner Wille; kantig wie unwiderlegbare Argumente.“ Und später, viel später, stellt der Erzähler bezüglich der französischen Sprache fest, sie sei „von einem Ende der Welt bis ans andere die internationale Sprache des Verhörs“ gewesen.

Immerhin gewesen. Doch der Krieg geht weiter, ist in die Vorstädte Frankreichs verlagert worden. Und hat wieder seine Besonderheiten, die sich aus der nicht so fernen Geschichte erklären. Neukölln ist eben nicht überall, Voracieux-les-Bredins ist anders.

Auch wenn die Erzähltechnik Alexis Jennis im letzten Abschnitt des Romans leider qualitativ absackt, hat er doch ein sehr starkes Buch geschrieben, das zu Recht 2011 mit dem Prix Goncourt, dem höchsten französischen Literaturpreis, geehrt wurde. Uli Wittmann hat eine kongeniale Übersetzung des reinen Textes geliefert. Die „Kunst des Krieges“ aber ins Deutsche zu übertragen, muss der Leser selbst leisten. Aktuelle Anlässe dafür sind trotz und gerade wegen der anderen Geschichte ausreichend vorhanden.

Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges.

Aus dem Französischen von Uli Wittmann.

Luchterhand 2012

766 Seiten

24,99 €

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jens kassner

Subjektives zu Politik, Kultur und anderen schönen Dingen

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