Chronik eines angekündigten Endes

Insulanes Panoptikum Buchkritik zu Inger-Maria Mahlkes Roman "Archipel"

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dieser Roman ist wie eine Filmspule, die gegen die Laufrichtung der Kamera rebelliert. Die Geschichte läuft rückwärts. Wirkungen werden zu Ursachen. Ausgänge zu Aufbrüchen. Resultate zu Erwartungen. Ein literarisches Experiment, das es in sich hat. Die Berliner Autorin Inger-Maria Mahlke, die ihre Kindheit teilweise auf Teneriffa verbrachte, erzählt die Geschichte der Kanareninsel von 2015 bis 1919. Dabei kommt allerhand zur Sprache. Eine verheerende Grippeepidemie. Faschismus und Tourismus. Familiäre Grausamkeiten unter Palmen. Der saure Trotz der Überlebenden von Krieg und Diktatur. Ein gescheiterter Militärputsch, der im Radio verfolgt wird. Zunächst aber beginnt alles ganz harmlos in der verträumten Gegenwart einer Urlaubsinsel.

Buchstäblich an der Pforte dieser Inselchronik wacht „el portero“, der 95 Jahre alte Julio Baute. Er thront in der Portiersloge des Altenheims von La Laguna, der ehemaligen Hauptstadt der Kanarischen Inseln, und hindert die dementen Bewohner daran, ihr „Asilo“ zu verlassen. Dabei verfolgt er gebannt die Tour de France im Fernsehen. Denn Räder haben es ihm angetan. Er selbst saß jahrelang als Kurier im spanischen Bürgerkrieg auf dem Sattel und geriet dabei in die Hände der Faschisten. Als er fliehen konnte, verließ er die Insel, um Jahre später in die versehrte Heimat zurückzukehren.
Auch Rosa, seine Nichte, kehrt zurück. Sie hat ihr Kunststudium in Madrid abgebrochen und sucht auf der schwankenden Insel im Atlantik neuen Halt. Dort aber werden ihre Eltern, wie viele Familien, noch immer von den Gespenstern der Franco-Diktatur heimgesucht. Die alten Wunden der Kollaboration und der gegenseitigen Verletzungen wollen nicht heilen. Später wird Rosa, die Tochter von Franquisten, ausgerechnet bei Julio, dem knorrigem Antifaschisten und Großvater mütterlicherseits, eine neue Heimat finden. Eine späte Versöhnung der zerrissenen Familie.

Stilsicher entwirft Inger-Maria Mahlke ein multiperspektivisches Panoptikum jener zersprengten Familien der Bautes, Bernadottes und Wieses, die es alle irgendwann nach Teneriffa verschlug. Dicht, pedantisch und atmosphärisch bringt sie dem Leser die Interieurs und Straßenzüge von La Laguna nahe. Da ist etwa jene quirlige Plaza de la Candelaria, die, ursprünglich unter den Namen Plaza de la Constitución und später als Plaza de la República, zum geschichtsträchtigen Mittelpunkt dieses vielschichtigen Romans wird. Dabei zeitigt das Rückwärtserzählen nicht nur stilbildende Effekte. Auch wenn es gelegentlich mühsam ist, die aufgespannten Erzählfäden und das dichtgedrängte Figurentableau zu überblicken, so wird der Leser doch Zeuge eines merkwürdigen Verschwindens der Geschichtlichkeit selbst. Es ist, als höben die vielen Porträts und Details und Miniaturen, dieses unübersichtliche Gewimmel der rückwärtigen Lebensläufe, das Konzept der fortschreitenden Zeit selbst auf. So gerät man ins Staunen über die sonderbare Vorstellung, dass es in der Menschheitsgeschichte überhaupt so etwas wie Verlust geben kann.

Zuerst erschienen, leicht verändert, im Kölner Stadt-Anzeiger

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jo Balle

Journalist und Autor

Jo Balle

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden