Sind Gewerkschaften im Aufwind? Schaut man sich die Mitgliederentwicklung bei Verdi an, sieht alles danach aus. 100.000 neue Mitglieder meldet die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft seit Jahresbeginn. Noch nie sind so viele Menschen in so kurzer Zeit Verdi-Mitglied geworden.
Woran liegt das? Zum einen daran, dass es große Tarifrunden gab: im öffentlichen Dienst für mehr als 2,5 Millionen Beschäftigte, aber auch bei der Deutschen Post, in der privaten Energiewirtschaft und im Gesundheitswesen.
Und es ging um etwas. Nachdem 2022 die Lebenshaltungskosten explodiert waren, warfen die Gewerkschaften ihre in der Corona-Krise eingeübte Bescheidenheit über Bord und stellten Forderungen zum Teil im zweistelligen Prozentbereich. 10,5 Prozent forderte Verdi im öffen
rdi im öffentlichen Dienst, 15 Prozent bei der Post. Zwölf Prozent will die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG bei der Deutschen Bahn durchsetzen. Und auch die acht Prozent, mit denen die IG Metall 2022 in die Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie zog, waren für deutsche Verhältnisse unüblich.Müssen Gewerkschaften also nur mutige Forderungen stellen – und schon treten die Leute ein? Nun ja: Mindestens genauso wichtig ist, dass die Menschen überhaupt angesprochen wurden. Studien zeigen: Einer der Hauptgründe, warum Menschen nicht in eine Gewerkschaft eintreten, ist, dass sie nie jemand fragt. Wer in einer Firma ohne Betriebsrat arbeitet – also mehr als 60 Prozent der Beschäftigten –, kommt normalerweise nie mit einer Gewerkschaft in Berührung. Aber auch in tarifgebundenen und mitbestimmten Betrieben ist es nicht selbstverständlich, dass Betriebsräte regelmäßig im Gespräch mit der Belegschaft sind. Von einer systematischen Ansprache von Neueingestellen, Auszubildenden oder Leiharbeitern ganz zu schweigen.100.000 neue Mitglieder zählt Verdi seit JahresbeginnGenau das ist in den beiden großen Tarifrunden von Verdi und IG Metall aber gemacht worden, und zwar in einer Breite wie nie zuvor. Beide Gewerkschaften starteten im Sommer 2022 mit flächendeckenden Befragungen in den Betrieben, in denen es nicht nur ergebnisoffen um die Höhe der Lohnforderung ging. In beiden wurde abschließend geradeheraus gefragt: Und bist du bereit, für diese Forderung zu streiken, wenn es sein muss? Eine Kleinigkeit, die nicht viel zu bedeuten hat, könnte man meinen. Doch die Frage wurde hunderttausendfach gestellt.Das war kein rhetorisches Beiwerk. 339.148 Beschäftigte im öffentlichen Dienst unterschrieben öffentlich Banner und Transparente mit den Tarifforderungen. Die Methode, für die sich bei Verdi der Begriff „Stärketest“ eingebürgert hat, zeigt, auf welchem Niveau inzwischen kollektive Lernprozesse laufen: Ursprünglich entwickelt in Tarifkonflikten im US-amerikanischen Gesundheitswesen und systematisiert von der Organizerin Jane McAlevey, fanden sie über das „Organizing for Power“-Bildungsprogramm der Rosa-Luxemburg-Stiftung ihren Weg zur Charité und Berliner Krankenhausbewegung. Inzwischen ist sie ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des Verdi-Werkzeugkoffers.Die Organizerin hat’s rausDass systematische Ansprache auch außerhalb von Tarifrunden funktioniert, zeigen zwei regionale Aktionen der IG Metall Baden-Württemberg. In ihren Geschäftsstellen Schwäbisch Hall und Freiburg-Lörrach führte die Organisation über einen Zeitraum von jeweils vier Wochen je 8.000 bis 12.000 Einzelgespräche in und vor je rund hundert Betrieben. Ergebnis: Fast jedes zehnte Gespräch führt zu einem Gewerkschaftsbeitritt.Das ist die simple Erfahrung aus der jüngeren Vergangenheit von Verdi und IG Metall: Wo immer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter auf die Menschen zugehen und ein Angebot machen, gemeinsam nach Lösungen und Verbesserungen zu suchen, gehen Mitgliederzahlen und Aktionsbereitschaft nach oben. Aber Achtung: Das heißt nicht, dass die Krise der Gewerkschaften überwunden ist. Die verlieren seit 30 Jahren Mitglieder, und auch in diesem Jahr wird das so bleiben. Die Gründe dafür sind vielfältig – Strukturwandel, Kulturwandel, Demografie. Mit einigen dieser Megatrends müssen sich Gewerkschaften arrangieren, aber es gibt Dinge, die sie anschieben können. Mit Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch kommen, gehört dazu.Placeholder authorbio-1