Baden-Württemberg driftet nach rechts bei der Migrationspolitik: Ein Dorf namens Killer
Südwesten Seit Jahrzehnten geht das Ländle seinen eigenen „Stuttgarter Weg“ in Sachen Migrationspolitik. Nun werden auch hier die Rechten von der AfD lauter – und die CDU grölt fröhlich mit
Syrische Geflüchtete aus Deutschland auf der Fahrt zurück aus der Ukraine, wo sie Hilfsgüter hingebracht hatten
Foto: Theodor Barth/Laif
Viele hier sind vergleichsweise wohlsituiert, Bio-Schwäb:innen und Zugereiste gleichermaßen. Jenseits des „Wutbürger“-Klischees für den Widerstand gegen den immer noch sehr unfertigen Tiefbahnhof gelten die Menschen in der Region Stuttgart als behäbig oder jedenfalls gelassen – erst recht, wenn die Zeiten komplizierter werden. In der Migrationspolitik geht Baden-Württembergs Landeshauptstadt schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ihren eigenen, den „Stuttgarter Weg“. Doch auch hier im Ländle werden längst die Stimmen von rechts laut.
Innenstadt-Flair im spätsommerlichen Oktober: Die Cafés sind bestens besucht, auch jene, in denen der einfache Espresso vier Euro kostet, die Wiesen auf dem Schlossplatz sind dicht be
d dicht bevölkert von Liegenden und Sitzenden. Wer Multikulti vorwiegend als Bedrohung missversteht, könnte sich hier bei nur etwas gutem Willen eines Besseren belehren lassen. In der gut 630.000 Einwohner zählenden Metropole auf dem sechsten Platz im deutschen Großstadtranking leben Menschen aus fast zweihundert Nationen. Mehr als 40 Prozent davon haben den berühmten Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Während anderswo die gegenwärtigen Fluchtbewegungen knapp unter der Hysterie-Schwelle diskutiert und von interessierten Kreisen noch immer weiter hochgejazzt werden, sagt Alexandra Sußmann, die grüne Bürgermeisterin für Soziales und gesellschaftliche Integration, diesen Satz: „Wir sind nicht in einem Warenlager, es kommen keine Regale, es kommen Menschen, und die müssen menschlich behandelt werden.“2001, unter dem damaligen CDU-Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, wurde der „Stuttgarter Weg“ eingeschlagen. In den ersten Jahren und nach den vielen Erfahrungen mit Geflüchteten, zum Beispiel während der Jugoslawien-Kriege, lag ein Schwerpunkt auf der Sprache. „Mama lernt Deutsch“ haben Skeptiker:innen zuerst belächelt. Seit Langem ist das Programm vielfach kopiert worden. Die Stadt beteiligte sich schon zu Beginn des Jahrtausends am Bundesprogramm zur interkulturellen Kompetenz. Die Datenbasis ist erheblich, weil ebenfalls seit Langem Einzelmerkmale erhoben werden und die Zusammenarbeit mit Verbänden und Vereinen, mit Helfer:innen im Ehrenamt oder Dolmetscher:innen stabil ist.Seit 2013 unterhält Stuttgart ein Welcome-Center, nicht versteckt in einem Hinterhof oder Gewerbegebiet, sondern direkt neben dem Alten und dem Neuen Schloss im Zentrum. Die Wirtschaftsförderung der Stadt ist daran mitbeteiligt. Gleichzeitig richtete der grüne Schuster-Nachfolger Fritz Kuhn die ämterübergreifende „Lenkungsgruppe Flüchtlinge“ ein. Eine Strategie der dezentralen Unterbringung in Kooperation mit Unterstützerkreisen wird konsequent und bis heute verfolgt.Stuttgart wirkt gut aufgestelltKeine zehn Kilometer Luftlinie vom Zentrum im Talkessel entfernt, auf den Fildern, der Hochebene im Süden, öffnet Thomas Plagemann immer wieder samstags seinen Fahrradladen. Der frühere Hauptmann werkelt mit Helfern auf dem Gelände der ersten Systembauten, die 2014 beim Beginn der großen Fluchtbewegung eröffnet wurden. Alte Drahtesel werden hier wiederhergerichtet und verkauft. Sie sind funktionstüchtig, aber in einem Zustand, der den Nutzer:innen den Kauf eines Schlosses erspart. Seit ein paar Jahren hilft ein geflüchteter Syrer ehrenamtlich, der selber längst in Lohn und Brot ist. Und dessen Sohn wird Mechatroniker bei Bosch, berichtet Plagemann.Im 150 Jahre alten Sportverein TV Plieningen trainieren Kinder oder Jugendliche gemeinsam. Die Kriminalitätsrate im Stadtbezirk ist eine der niedrigsten in der ganzen Region. Die nachbarschaftlichen Kontakte sind entspannt, seit die Unterkunft vor sieben Jahren an den Start ging. Oberbürgermeister Kuhn hob dabei hervor, dass es sich nicht um Container handele, sondern um Gebäude, die Lärm- oder Wärmeschutzanforderungen entsprechen. Und bediente sich eines Hölderlin-Zitats aus dem Schatzkästlein seines legendären CDU-Vorvorgängers Manfred Rommel: „Glückliches Stuttgart, nimm freundlich den Fremdling mir auf.“Gegenwärtig muss die Stadt, Sitz der Autoweltmarken Mercedes-Benz und Porsche, etwa vierhundert Flüchtlinge im Monat aufnehmen. Zugleich wandern jedoch rund dreihundert ab, in eine eigene Wohnung, zu Freunden oder Familienangehörigen, sie kehren in ihre Heimat zurück oder wandern weiter in andere Länder. Alle Planungen basieren auf diesem relativ günstigen Verhältnis. Insgesamt gibt es gegenwärtig 195 Unterkünfte für Geflüchtete mit insgesamt 10.679 Plätzen in allen 23 Stuttgarter Bezirken. Zur Wahrheit gehört auch, dass insgesamt rund 1.800 Geflüchtete gegenwärtig in Notunterkünften leben, ein Teil in einer großen Lagerhalle.Anfang Oktober bewertete Sußmann im Wirtschaftsausschuss des Gemeinderats die Lage. Neue Quartiere bräuchten einen Vorlauf von sechs Wochen, weil Betten, Caterer oder Security organisiert werden müssen. Bezirksvorsteher und -beiräte seien immer eingebunden, weil eine Stadt „am stärksten ist, wenn die Ämter zusammenarbeiten, und am schwächsten, wenn sich jeder auf seine Zuständigkeiten zurückzieht und am Ende niemand mehr übrig bleibt“. Die promovierte frühere Richterin hat viel Erfahrung, sie war stellvertretende Regierungspräsidentin und während der großen Fluchtbewegung vor sieben Jahren Referentin für Ausländer und Asylrecht im Staatsministerium des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. „Wir müssen uns dauerhaft darauf einstellen, dass Menschen zu uns kommen“, sagt Sußmann im Wirtschaftsausschuss. Prompt kontert ein AfD-Gemeinderat: Er denke gar nicht daran! Dann beklagt er, dass „wir uns zuständig fühlen für die Krisen der Welt“. Andere Länder seien befreit von dem „Schicksal“, Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, folglich handele es sich um „gewollte Politik“. Woraufhin die Bürgermeisterin rät, der Realität ins Auge zu sehen.Die CDU flirtet mit der AfDAuch von der CDU gibt es dafür keinen Applaus. In knapp acht Monaten sind Kommunal- und Europawahlen im Südwesten, die Grünen sind mit 19 Sitzen die größte Fraktion in Stuttgart, es gibt eine knappe grün-linke Mehrheit, in der Flüchtlingspolitik herrschte lange ein Konsens. Aber die zwölf CDU-Rät:innen wollen die Entscheidung über neue Unterkünfte nicht mehr mittragen. Sogar Fritz Kuhn, inzwischen im Ruhestand, schaltete sich auf einer Demo in der Innenstadt ein, bittet, diese Entscheidung zu überdenken, nennt das Vorgehen „traurig und erstaunlich“. CDU-Fraktionschef Alexander Kotz stellt stattdessen sogar in Aussicht: „Wenn eine vernünftige Idee der AfD die Stadt voranbringt, stimmen wir zu.“ Und Kuhns CDU-Nachfolger Frank Nopper verlangt zumindest „auch die Stimmungslage in der Bevölkerung in Zeiten einer seit Gründung der Bundesrepublik noch nie da gewesenen Polarisierung und Radikalisierung ernst zu nehmen“.Ähnlich argumentieren Parteifreund:innen in anderen Landesteilen. Der Präsident des Gemeindetags, Steffen Jäger, verlangt nach „wirksamen Maßnahmen von der Politik“ (als wäre er nicht selber Politiker). Besonders liberale Schwarze schwenken um. Für den Schwäbisch Gmünder Oberbürgermeister Richard Arnold, der sich über Jahre hinweg als „an der Seite der Flüchtlinge“ beschrieb, ist Zuwanderung inzwischen ein „Gift für den Zusammenhalt“.Günther-Martin Pauli ist Landrat im Zollern-Alb-Kreis und anerkannt für sein Verhalten 2015/16. Als er neulich in einem Dorf namens Killer, das zur Stadt Burladingen gehört, über eine geplante Unterkunft für Geflüchtete in einem ehemaligen Gasthof informieren wollte, wurde er unter Mithilfe eines AfD-Landtagsabgeordneten niedergebrüllt. Auch Baden-Württembergs für Migration zuständige Justizministerin Marion Gentges (CDU) erhöht den Druck auf die Bundesregierung, die „für eine faire europaweite Verteilung“ sorgen müsse. Ein Wunsch, den unionsgeführte Bundesregierungen ebenso nicht erfüllen konnten.Zurück nach Stuttgart. „Wir Kommunalpolitiker entscheiden nicht über Umfang, Maß und Zielrichtung von Zuwanderung, sondern darüber, wo und wie Flüchtlinge untergebracht werden“, anerkennt Oberbürgermeister Frank Nopper inzwischen die Wirklichkeit. Er verspricht, „die Geflüchteten anständig und menschenwürdig“ zu behandeln. Mittlerweile liegt der Zwischenbericht der Taskforce, die schon im vergangenen Jahrzehnt viel Erfahrung sammeln konnte, auf dem Tisch. In dem Bericht wird versucht, sowohl Mut zu machen als auch die Augen für weltweite Tendenzen offen zu halten: „Migrations- und Fluchtbewegungen sind heute global gesehen die Regel und nicht die Ausnahme (…), die Arbeit ist eine interdisziplinäre und gesamtgesellschaftliche Aufgabe und kann nur gemeinsam gelöst werden.“ Das Wort Überforderung übrigens kommt auf den zwölf Seiten überhaupt nicht vor.
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