Heilsbringer Modi

Digitale Emanzipation Indiens Premierminister Modi sieht sein Land gerne als Inbegriff der digitalen Transformation. Derweil sehen Millionen Frauen auf dem Land zum ersten Mal ein Smartphone

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Um die Gleichstellung in der indischen Gesellschaft ist es auch im Jahr 2019 nicht allzu gut bestellt. Obwohl Mann und Frau per Gesetz gleichberechtigt sind, leiden im patriarchalisch geprägten Indien Frauen und Mädchen auch heute noch unter sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Benachteiligung. Auf dem Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit der Vereinten Nationen rangierte das Land im Jahr 2017 gerade mal auf dem 127. Platz und damit sogar hinter kriegs- und krisengebeutelten Ländern wie dem Irak, Lybien oder Venezuela. Und während Premierminister Narendra Modi sich anschickt, sein Land im Rahmen der „Digital India“-Initiative ins digitale Zeitalter zu führen, bleibt der überweigende Teil der Frauen und Mädchen vom Fortschritt abgeschnitten.

Frauen moralisch verdorben

So nehmen trotz des rasanten digitalen Wandels, den das Land in den vergangenen Jahren durchlebt hat, nach wie vor deutlich weniger Mädchen als Jungen am vernetzten Leben teil. Weniger als ein Viertel, lediglich 23 Prozent, der indischen Mädchen im Teenageralter besitzt ein Mobiltelefon und nur 30 Prozent wissen, wie man im Internet nach Informationen sucht. Dies geht aus einer aktuellen Erhebung der Naandi Foundation, einer der größten Einrichtungen im sozialen Sektor in Indien, aus dem Jahr 2018 hervor. In ländlichen Regionen ist die Situation laut dem Bericht sogar noch prekärer: Dort verfügen lediglich 19 Prozent aller Mädchen zwischen 13 und 19 Jahren über ein eigenes Mobiltelefon. Die Auffassung, Smartphones würden Frauen moralisch „verderben“, sie von den alteingesessenen Strukturen in ihrem Umfeld entfremden und generell zum Aufbegehren ermuntern, sind gerade auf dem Land noch immer weit verbeitet. In vielen indischen Dörfern ist es jungen Frauen deshalb sogar gänzlich verboten, Mobiltelefone zu benutzen.

IT-Konzerne im Wettstreit

Inwiefern Modis Regierungsinitiative „Digital India“ über geeignete Instrumente verfügt, um solchen gesellschaftlich-kulturell bedingten Missständen zu begegnen, bleibt abzuwarten. Ein gewisses Potenzial lässt sich der vornehmlich auf technologische Aspekte wie den Ausbau des Breitbandnetzes, die Umstellung der Verwaltung auf E-Government und die Förderung von digitalen Start-ups ausgerichteten Initiative jedenfalls nicht absprechen. Demnach arbeitet die Regierung eng mit führenden IT-Konzernen wie Google, Apple und Facebook zusammen, um den „digital divide“ – die Schere zwischen Bürgern, die bereits an das Internet angeschlossen sind, Smartphones besitzen und diese in ihr alltägliches Leben integriert haben, und jenen, die von dieser Entwicklung bislang noch ausgeschlossen sind – zu überwinden. Dabei versuchen sich die IT-Riesen mit dem Ausbau der Netzinfrastruktur, der Versorgung der Bevölkerung mit günstigen Mobiltelefonen und speziell auf die Bedürfnisse des indischen Marktes zugeschnittenen Programmen und Apps gegenseitig zu überbieten. Längst haben Google und Co. erkannt, dass Indien nach China einen der letzten großen, unerschlossenen Wachstumsmärkte auf dem digitalen Sektor bietet und wetteifern nun darum, die Bevölkerung möglichst auf die Nutzung der firmeneigenen Produkte und Dienstleistungen zu konditionieren.

Ein wohltätiger Anstrich

Darüber hinaus verpassen die IT-Firmen ihrem Engagement mit diversen Programmen zur Stärkung der Medienkompetenz einen wohltätigen Anstrich. Jüngstes Beispiel dafür ist die von Facebook unterstützte „GOAL“-Kampagne der indischen Digital Empowerment Foundation. Unter dem Motto „Going Online As Leaders“ sollen ausgesuchte Stammesmädchen aus verschiedenen Bundesstaaten Indiens zu digitalen Führerinnen in ihren jeweiligen Dörfern und Gemeinden ausgebildet werden. Dabei werden den Mädchen 25 Mentorinnen und Mentoren aus unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft, Bildung, Politik, Kunst und Unternehmertum zur Seite gestellt, um sie ein Jahr lang zu begleiten und im Umgang mit digitalen Medien zu schulen, ihnen Führungskompetenzen und unternehmerische Fähigkeiten zu vermitteln. „Das Internet und insbesondere die sozialen Medien haben sich in den vergangenen Jahren zu einem der effektivsten Werkzeuge zur Förderung von Frauen aus unterschiedlichen sozialökonomischen Milieus und mit verschiedenen kulturellen Hintergründen herausgebildet“, erklärte dazu die Leiterin von Facebooks Public Policy Abteilung in Indien, Ankhi Das, in einer kürzlich veröffentlichten Pressemitteilung.

30.000 Internet-Missionarinnen

Auch Konkurrent Google ist in Indien bereits seit geraumer Zeit in Sachen digitaler Emanzipation unterwegs und hat in Kooperation mit der indischen NGO "Tata Trust" in den vergangenen Jahren eine Armada von knapp 30.000 Landfrauen zu sogenannten „Internet-Saathi“, einer Art Digital-Missionarin, ausgebildet. Mit Smartphones und Tablets ausgestattet, ziehen sie von Dorf zu Dorf, um den dortigen Bewohnerinnen den Umgang mit den digitalen Wunderwerken beizubringen. „Frauen das Internet näher zu bringen, ist eine Herausforderung“, erklärte die Marketing-Chefin von Google in Indien, Sapna Chadha, gegenüber einer indischen Zeitung. „Während noch vor wenigen Jahren nur einer von zehn Internet-Nutzern auf dem Land eine Frau gewesen ist, sind es heute drei von zehn.“ Insgesamt habe die Kampagne landesweit bereits 12 Millionen Frauen erreicht und ihnen zu mehr Unabhängigkeit im Alltag verholfen.

Heilsbringer für die Frauen

Doch ganz so einfach, wie Facebook, Google und Co. es sich wünschen, dürfte die digitale Transformation von Indiens Hinterländern hin zu mehr Beteiligung von Frauen und Mädchen am Ende doch nicht sein. Denn die Benachteiligung von Frauen ist in Indien systemimanent und liegt bekanntermaßen im kulturellen Konservatismus, patriarchalischen Werten und strengen Rollenerwartungen innerhalb der indischen Gesellschaft begründet. Soll also die Beteiligung von Frauen am digitalen Wandel funktionieren, so müssen sich die Internetkonzerne auch den vorherrschenden Gegebenheiten und Realitäten stellen. Die Gründerin der NGO „Feminist Approach to Technology“, Gayatri Buragohain, moniert schon seit langem, dass die digitale Ungleichheit zwischen Mann und Frau nicht allein durch das Vermitteln technischer Fähigkeiten beseitigt werden kann. „Mädchen müssen die kulturellen Muster und Machtstrukturen verstehen, die sie daran hindern, gleichberechtigt an der indischen Gesellschaft teilzunehmen. Themen wie ungleiche Rollenverteilung, häusliche Gewalt und frühe Zwangsheirat in ihren Herkunftsgemeinschaften müssen stärker in den Fokus rücken, wenn sich dauerhaft etwas ändern soll.“

Vor diesem Hintergrund dürfte die Umerziehung der Gesellschaft hin zu gleichberechtigten Werten weitaus größere Anstrengungen erfordern, als die Vermittlung des richtigen Umgangs mit Smartphones. Premierminister Modi könnten Kampagnen wie „GOAL“ oder die „Internet-Saathi“ dennoch in die Hände spielen, stehen doch im April Parlamentswahlen in Indien an. Geschätzte 65 Millionen junge Frauen werden in diesem Jahr zum ersten Mal wahlberechtigt sein. Gelingt es Modi noch rechtzeitig vor der Wahl, sich als Heilsbringer für die Frauen zu profilieren, dürfte das ihm und seiner hindunationalistischen Bharatiya Janata Partei einen großen Vorteil verschaffen.

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