Mehr Gaga, bitte

Bewegungskunst Marie Chouinard glänzte beim Festival Tanz im August, wirkte aber auch etwas angestrengt
Ausgabe 35/2015

Mit dem Loslassen im Tanz ist das so eine Sache. Als Release-Technik ist es zwar in den modernen Tanz eingezogen, und auf zeitgenössischen Bühnen wird ohnehin gezuckt, vibriert und gekotzt, was das Zeug hält. Anmut gehört ins russische Staatsballett. Wenn es aber ernst gemeint ist mit dem Loslassen, kann etwas passieren, das im Tanz schwer zu ertragen ist: Der Körper sieht deformiert aus. Das wühlt auf, wie man an den Debatten sieht, wenn Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, wie bei dem Choreografen Jérôme Bel. Dann wird diskutiert, wem das Publikum zuschaut: Menschen mit Behinderung, die tanzen, oder Tänzern, die eine Behinderung haben. Bei der Grenze zwischen Tanz und Bewegung gelten ästhetische Spielregeln. Das Loslassen ist also eine Herausforderung, für die Tänzerinnen und Tänzer wie für das Publikum gleichermaßen.

Erlebt habe ich kürzlich beides. Das Berliner Festival Tanz im August hat die Choreografin Marie Chouinard mit ihrer Compagnie eingeladen. Eine Frau, die früher als Solotänzerin auf der Bühne masturbierte und urinierte, sich also auskennt mit dem Loslassen. Nun hat sie zwei Arbeiten präsentiert. Henri Michaux: Mouvements von 2011 inszeniert Gedichte des belgischen Surrealisten Michaux mit Tuschezeichnungen. Während im Hintergrund die Bilder an die Wand projiziert werden, überträgt das Ensemble die Formen auf 3-D. Eine gekrakelte Linie wird durch einen zuckenden Arm nachgestellt, ein Dickicht aus schwarzen Strichen durch drei Tänzerinnen, die sich in Huckepackformation durch den Raum schleudern. Schöner waren Tintenkleckse selten auf der Bühne zu lesen.

Spannender zum Thema Loslassen ist Chouinards neue Arbeit Soft virtuosity, still humid, on the edge. Geschmeidig gleitet das Ensemble zu rauschenden Sounds durch den Raum, Arme und Beine schmelzen auf und ab, das Wasser ist förmlich zu sehen. Im nächsten Moment humpeln die Tänzerinnen und Tänzer im Stechschritt wie Zombies durch den Raum, beugen die Schultern, stöhnen laut auf, ziehen Grimassen. Da wird ein Kinn so weit vorgeschoben, dass das Gesicht zur Fratze wird, und vergrößert an die Wand gebeamt. Wie sehr kann man Bewegungen und Körper verzerren, dass sie noch menschlich wirken oder tänzerisch?

Geschüttelt und gejauchzt

„Hört auf, schön zu tanzen“, sagt meine Tanzlehrerin, „es muss nicht gut aussehen.“ Je besser ausgebildet die Tänzerinnen, umso schwerer fällt es ihnen. Kontrollverlust ist im Training wie auf der Bühne selten. Eine Technik aus Tel Aviv namens Gaga arbeitet genau damit. Erfunden wurde sie von Ohad Naharin, dem Kopf der israelischen Batsheva Company. Für die einen ist Gaga wie der Name, bekloppt, für die anderen ist es eine Erleuchtung. Kreisförmig formiert man sich im Raum, der Spiegel wird verhängt und aus einer Imagination heraus getanzt. Wer jetzt sagt, das sei esoterisch, möge es selbst versuchen.

Hier wird geschüttelt, gejauchzt, gefloatet, Bewegungen werden von den Knochen her gedacht statt von den Muskeln. Gaga bringt ein neues Repertoire auf die Bühne, zieht weltweit in die Tanzschulen ein und steht bei Profi-Compagnien hoch im Kurs. Bei Chouinard hätte ich mir am Ende etwas Gaga gewünscht. So schön die Inszenierungen waren, das Angestrengte, die Kraft, das Training – was hinter den Choreografien steckt, war kaum zu übersehen.

Info

27. Internationales Festival Tanz im August Berlin, bis 4. September, tanzimaugust.de

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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