Der Wahn ist die Quelle der Kreativität

Hillbilly culture Nützliche Idioten, Verschwörungstheorie, postfaktisches Wissen ... Aber postfaktisches Wissen ist gar nicht postfaktisch. Auch nicht in einem Industrieland wie Amerika.

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Sie wissen, wer Donald Trump ist, aber nicht, wer John Brinkley war? OK, ein bisschen spät jetzt, aber das holen wir nach. Am besten mit einem nicht ganz neuen Buch (nein, nicht der Werbung, die vermutlich eine Zeile tiefer aufpoppt, sondern da, wo dieser Blog weitergeht:

Pope Brock: Charlatan, New York, 2008.

Man kann den Charlatan als Road Movie lesen. Der Protagonist ist viel unterwegs. Und manchmal scheint der Beginn eines seiner Lebensabschnitte eigentlich schon das Ende zu sein.

1917 wird John Brinkley aus der Armee entlassen, nach nur zwei Monaten und dreizehn Tagen als Militärarzt. Die meiste Zeit davon war er selbst krank. Und nun findet er, fast am Ende seiner finanziellen Mittel, eine Zeitungsannonce: die Stadt Milford, Kansas, zweitausend Einwohner, sucht einen Arzt, der sich dort niederlassen soll.

Der Doktor und seine Frau Minnie reisen per Auto an und finden heraus, dass sie hereingelegt wurden. Zweihundert Einwohner mag die "Stadt" haben - die Zahlen, an die sich Minnie Brinkley erinnert, sind höher als die von Brock genannten, zeichnen aber ebenfalls das Bild eines Reinfalls.

Wie dem auch sei: das Spritgeld ist alle, und das gelinkte Ehepaar kann es sich nicht leisten, nachtragend zu sein. Er bereist Ort und Umland, macht Hausbesuche bei jedem Wetter, und sie arbeitet als Hebamme. Und in Milford beginnen auch jene Operationen, die ihn wenig später zu einer nationalen Kult- oder auch Hassfigur machen. Denn völlig unumstritten ist er von Anfang an nicht.

John R. Brinkley war Arzt. Möglicherweise besaß er in seinem ganzen Leben keine einwandfreie Zulassung. Aber über viele Jahre in den 1920ern und 1930ern galt er als eine medizinische Koryphäe: er machte alte Männer (und manchmal auch Frauen) vorgeblich wieder jung. Sein Mittel: er "transplantierte" ihnen die Hoden und Drüsen von Ziegenböcken.

Die Suche nach ewiger Jugend war nicht nur sein Metier, und nicht nur eins auf der amerikanischen Seite des Atlantiks. Auch in Europa arbeiteten Mediziner an diesem Ziel - der bekannteste von ihnen mögen Eugen Steinach oder Serge Voronoff gewesen sein. Auch ihre Methoden und Hypothesen waren gelegentlich - jedenfalls im Nachhinein betrachtet - abenteuerlich.

Aber Brinkley war auf ihrem Gebiet der Wilde Westen.

Wenn er auch medizinisch nicht innovativ (und dafür laut Brock oft genug tödlich) wirkte: auf dem Gebiet der Werbung und der Massenkommunikation war er tatsächlich ein Pionier.

Pope Brock beschreibt in "Charlatan" die Laufbahn Brinkleys: vom kleinen Landei in North Carolina zu einer ebenfalls bescheidenen (aber gut geplanten) Roadshow, in deren Rahmen er angebliche Heilmittel an gut gelauntes Feierabendpublikum verkaufte, von einem abgebrochenen Medizinstudium in Chicago und einem ersten misslungenen, regional begrenzten Beschiss hin zum amerikaweiten Kultstatus.

Seine Mittel zum Zweck - und zum Erfolg dabei - waren einfach, wenn man Brock glauben kann. Sie erscheinen jedenfalls gedanklich nachvollziehbar.

The lure of youth? Life was happiness, so more life was more happiness: this was the level of public discourse. Anxieties up to and including terror of the grave simply weren't mentioned. [...] We don't need psychologists to tell us (though they do) that it is not only, or even primarily, happy people who are most eager to keep living. Those who experience life as grim and frightening often view death as even grimmer and more frightening. This is not to say that a hunger to stay alive is perverse, but merely that complexity and paradox rarely figure in popular delusions and the madness of crowds. (Brock:95)

Und mit Verwunderung bemerkt Brock, dass all der Aufmerksamkeit zum Trotz, der den Theorien der Massenpsychologie seit Edward Bernays und anderen Spin-Experten seit den 1920ern gewidmet wird, offenbar niemand den Jugendwahn jemals in eben diesen Begriffen eingeordnet habe: als zusammenwirkende Fantasterei (cooperative fantasy). Dabei habe ein gewisser Samuel Johnson schon anderthalb Jahrhunderte vorher diese Dynamik sauber auseinandergenommen:

[W]e go with expectation and desire of being pleased; we meet others who are brought by the same motives; no one will be the first to own the disappointment; one face reflects the smile of another, till each believes the rest delighted, and endeavours to catch and transmit the circulating rapture. In time, all are deceived by the cheat to which all contribute. The fiction of happiness is propagated by every tongue, and confirmed by every look, till at last all profess the joxy which they do not feel, [and] consent to yield to the general delusion."

Die Spannung wirkt in beide Richtungen. Erscheint Brinkley mit seinem Latein am Ende, beginnt er von einem Tiefpunkt aus neu. Ist er ganz oben, schlagen seine Gegner wieder erfolgreich zu. Eine neue Chance ergibt sich immer wieder - allerdings zwingt er sein Glück auch.

Oder, mit einem von Brock verwendeten Zitat von Samuel Johnson ausgedrückt:

Truth, sir, is a cow that will yield such people no more milk, and so they are gone to milk the bull.

Ob nun im Sinne der zuvor zitierten Johnsonschen Beschreibung der general delusion, oder auch ganz anders: Brinkleys Ziegenbock-Eiertransplantationen überzeugen Patienten vor Ort, in Milford. Und um das große Verjüngungsverfahren auch dem Rest der Nation nahezubringen, greift Brinkley zu einem gerade neu entstehenden Massenmedium: dem Radio.

Die Mittelwelle ist in den 1920er Jahren der gebräuchliche Wellenbereich für die öffentliche Nutzung. Brinkley sendet zunächst aus Milford. Tagsüber bleibt die Reichweite begrenzt, aber nachts erreicht seine Eierpropaganda mit Hilfe der Raumwelle die Radiohörer mehrerer Bundesstaaten.

Als ihm die Sendelizenz aberkannt wird, gründet er einen neuen Mittelwellensender - diesmal südlich der Grenze mit Mexiko. Die mexikanischen Behörden helfen gern, denn mit Washington haben sie noch eine Rechnung offen: bei der vorangegangenen nordamerikanischen Frequenzenvergabe zwischen Kanada, USA und Mexiko hatten die Yankees ihre südlichen Nachbarn mit ein paar Wellenresten abgespeist und sich nicht wieder nach ihnen umgeguckt. Hier sendet jetzt Brinkley, der seine Beiträge telefonisch durchgibt. Und da ein Antrag auf Erhöhung der Sendeleistung nach der anderen von den mexikanischen Behörden durchgewunken wird, hört man ihn jetzt nicht nur in mehreren Bundesstaaten, sondern in jedem US-Bundesstaat und in Kanada.

Aber er verkauft seinen Landsleuten nicht nur Illusion, Disaster und Tod, sondern auch die "Hinterwäldlermusik", von der die Kulturwelt nichts wissen will, und CBS oder NBC daher auch kaum senden. Zu den beliebtesten Dauergästen bei Brinkley gehört die Carter Family, und zu den späterhin bekanntesten Hörern gehören dem Vernehmen nach Chet Atkins (1924 - 2001), Waylon Jennings (1937 - 2002) und Johnny Cash (1932 - 2003).

Unter Brinkleys Gegnern sind keineswegs nur Leichtgewichte. Tatsächlich gibt es Skeptiker und erbitterte Gegner sowohl in Politik, Bürokratie als auch Publizistik und medizinischen Gilden. Als sein schärfster und letztlich auch erfolgreicher Gegner gilt Morris Fishbein (1889 - 1976), Herausgeber des Journal of the American Medical Association, der sich öffentlich einen Namen als quackbuster macht.

Aber Brinkleys Gegner - das Establishment - sind über viele Jahre seinen Waffen nicht gewachsen. Sie haben ein Problem, das seine Aktualität ebenfalls bis heute nicht verloren hat: sie publizieren vor allem schriftlich, und während die obere Öffentlichkeit so vor allem Selbstgespräche führt, hören die massenhaften billigen Plätze Radio. Wenn auch der Einzelne unter ihnen nicht viel Geld aufbringen kann: die Masse macht's.

Zu Brinkleys Gunsten wirken außerdem noch gesetzliche Regelungen, die lt. Brock jede Menge ärztliche Falschbehandlung tolerieren - über die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bleibt die Medizin in Amerika fast blanke, unkontrollierte Vertrauenssache zwischen Ärzten und Patienten. Erst in den 1960ern wird laut Brock der erste amerikanische Arzt für death by bad doctoring verurteilt.

Brinkleys Sendungen sind auf das Verkaufen seiner Leistungen und auf den Verkauf fragwürdiger, mehr oder weniger medizinischer Präparate angelegt. Die Jahre der großen Depression können seiner Umsatzentwicklung nichts anhaben. Im Gegenteil: seine Versprechen, die schon zu besseren Zeiten populär waren, gelten den Verzweifelten als die ultimativen Lebensretter.

Immer wenn es für ihn eng wird, schaltet Brinkley auf Politik um. Als das Kansas State Medical Board ihm 1930 die ärztliche Lizenz entzieht, bewirbt er sich um den Gouverneursposten. Die etablierte politische Klasse begeht ihre Fouls an dem zunehmend Zugkraft entwickelnden Kandidaten nicht nur mit geräuschlosen Mitteln, sondern derart brachial, dass am Ende nicht einmal seine Gegner behaupten mögen, Brinkley habe das Gouverneursamt aufgrund echter Wahlen verfehlt.

Im März 1931 verkauft Brinkley seinen Radiosender in Kansas an eine Versicherungsgesellschaft. Für 350.000 Dollars baut er einen neuen, in Villa Acuna, gleich südlich des Rio Grande.

Bald folgt er seinem Sender und eröffnet im texanisch-mexikanischen Grenzgebiet ein neues Hospital. Ein nach Ansicht vieler Beobachter geschmacklich verirrtes Privatanwesen kommt hinzu, und als Präsident des örtlichen Rotarierclubs fährt Brinkley erstmals zu einem Kongress nach Europa. Deutschland begeistert ihn. Damit ist er nicht alleine in Amerika.

Sein Christentum, als dessen Anhänger er sich gelegentlich selbst mit Jesus verwechselt, enthält laut Brock auch antisemitische Elemente. (Brock:218)

Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre - Fishbein hat seinem Ruhm erstmals existenziell gefährliche Schläge versetzt - setzt Brinkley wieder auf politische Botschaften: Amerika solle sich aus dem Krieg heraushalten. Eine solche Position ist begreiflicherweise populär. Aber ein gegen Fishbein verlorener Verleumdungsprozess - Fishbein nennt ihn jetzt nicht nur einen Quacksalber, sondern hat auch die gerichtliche Erlaubnis dazu - führt zu Schadensersatzforderungen früherer Patienten, die ihn ruinieren.

Brocks Verhältnis zum beschriebenen Scharlatan ist nicht von durchgängiger Ablehnung geprägt, sondern immer auch von Faszination - das macht das Buch so lesbar, und der durchgängig ungetrübte Humor des Erzählers lässt fast den Horror ärztlicher Fehlpraxis vergessen, selbst wenn dieser gerade ausführlich beschrieben wird. Und ausführlich beschreibt Brock auch, wie viele Spuren Brinkley - hierzulande wohl fast unbekannt - in der populären Kultur Amerikas bis heute hinterlassen hat.

Brinkley betrog zwar Gott und die Welt, aber - das lässt die von Brock verfasste Biografie zumindest vermuten - nie seine Frau.

She had the odd knack, evident in photographs, of looking glamorous one moment, gap-toothed hill-billy the next, and good either way. At least Brinkley thought so. (Brock:21)

Das muss wohl etwas zu bedeuten haben - kann ein treuer Familienmensch nur schlecht sein?

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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