Die Enttarnung des Dr-Ing

Beispielsweise ... Immer wenn du denkst, jetzt geht nichts mehr, kommt von irgendwo die neue Deutung her.

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Die Wutbürger sind gar nicht von Wut getrieben, so der Soziologe Heinz Bude aus Kassel heute früh im Deutschlandfunk: sie seien von Hass getrieben. Hassbürger (wir verwenden also ab heute den neu geltenden Begriff) sind Teil eines Verbitterungsmilieus, das etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfasst:

Denken Sie beispielsweise an einen 52-jährigen Ingenieur aus einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Automobilzulieferers, der quasi von einem neuen 35-Jährigen gesagt kriegt, was er zu tun und zu lassen hat, und möglicherweise in eine andere Gruppe hinein gestellt wird.

Im öffentlichen Diskurs fühle sich ein solcher Mensch mit seinen Beschwernissen ignoriert, womöglich zugunsten von Zuwanderern. Und dann rücke der (womöglich? zwangsläufig?) nach rechts.

So schnell lässt sich also eine Wirklichkeit aufteilen und in Schubladen packen.

Bisher richtete sich diese Spielart des öffentlichen Diskurses meiner Wahrnehmung nach vor allem gegen als solche wahrgenommene Minderheiten. Raucher, Säufer, Hurenböcke, die solchermaßen ihre Hartz-4-Zuteilung verballern... you get the picture. Britische, chinesische und deutsche Eliten problematisieren auch gerne - und nicht unbedingt sorgfältig reflektiert - muslimisch geprägte "Parallelgesellschaften". Im deutschen lokalen Alltag kann diese Art der Diskriminierung auch Russlanddeutsche betreffen, insbesondere dann, wenn sie "religiöse Fundamentalisten" sind (das Label ist schnell aufgeklebt).

Nun wird der 52jährige Ingenieur, der mit einer ausgebliebenen Beförderung oder mit denen hadert, die an ihm vorbeigezogen sind, in den Pool potenziell Rechter/Rechtsradikaler geworfen:

Alle die sagen, das stimmt doch alles nicht ...

Unzufriedenheit ist eben Scheiße. Keep smiling, dann ist alles gut. Und wenn du protestierst, bist du entweder vom Selbstmitleid oder von Schlimmerem überwältigt.

Im Grunde sind solche Argumente ein Alarmsignal, sowohl für die Eliten selbst (die sich fragen müssen, wann ihr Spielraum zur propagandistischen Vergewaltigung der Wirklichkeit erschöpft ist) als auch für die Teile der Gesellschaft, die sich bisher, wenn es um die Freigabe zur unqualifizierten Kritik ging, für sakrosankt hielten.

Sakrosankt scheint nun auch die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft nicht mehr zu sein.

So kommt die Unersättlichkeit des Wohlfahrtskomitees zur Wirkung: jeden Tag müssen ein paar neue Konterrevolutionäre enttarnt werden - und wenn die nächstliegenden Kandidaten dafür ohnehin schon zu weit jenseits der Gesellschaft stehen, um sie damit noch zu verletzen, muss man sich eben auch Angriffsziele in den Reihen der offenen Gesellschaft suchen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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