Ist nach Köln nichts mehr wie vorher?

Zeit für Statistik Immer wieder heißt es, etwas dürfe nicht wieder passieren. Dumm nur, dass man sich wenig später nicht einmal mehr daran erinnern kann, was nicht wieder passieren darf.

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Wenn gesagt wird, Ereignisse wie die der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof dürfen sich nicht wiederholen: wer wollte dem widersprechen?

Wenn gesagt wird: Ereignisse wie die der Silversternacht am Kölner Hauptbahnhof werden sich nicht wiederholen: wer will dem zustimmen?

Die Welt - oder jedenfalls dieses Land - müsste sich mächtig umstellen, bevor die zweite Aussage auch nur den Hauch einer Chance bekäme, wahr zu werden.

Bei Statistiken ist Vorsicht geboten - je politisch und gefühlsmäßig aufgeladener das Thema, desto schwieriger gestalten sich Objektivierungsversuche aller Art. Nicht zuletzt die Offenheit, mit der Probleme thematisiert werden können, haben Einfluss auf die Datenlage - und Offenheit ist eine Sache des Bewusstseins - auch des Selbstbewusstseins.

Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt (Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung) zitierte vor knapp zwei Jahren die "taz" die Autoren einer Studie zu sexueller Belästigung von und sexueller Gewalt gegen Frauen,

Kulturelle Unterschiede im Umgang mit Gewalt hätten einen Einfluss darauf, wie offen Frauen dieses Thema ansprechen. Bei stärkerer Gleichberechtigung der Geschlechter herrsche deutlich mehr Bewusstsein und es gebe mehr Anzeigen.

Die Studie enthält Situationsbeschreibungen, die man(n) nicht auf sich wirken lassen muss, aber wirken lassen darf. Das hilft mitunter auch dabei, eine unerfreuliche Hartnäckigkeit bei Frauen zu verstehen, die den Status Quo einfach nicht hinnehmen wollen, und die sich auch nicht mit der Aussicht auf eine Weltrevolution vertrösten lassen möchten, nach der ohnehin alle Machtstrukturen beseitigt wären.

Kein Mann muss Bekenntnisse ablegen zu seiner Gewaltfreiheit oder zu seinem guten Willen dazu. Man darf den guten Willen für gewöhnlich voraussetzen. Auffallend nur, wenn Männer zwar einen Bekenntniszwang für sich selbst empört zurückweisen; von Muslimen aber Bekenntnisse zur Gewaltlosigkeit verlangen - mit dem Hinweis, selbstverständlich habe die Unterdrückung von Frauen etwas mit dem Islam zu tun.

Wenn es stimmt, dass Unterdrückung von Frauen und Islam etwas miteinander zu tun haben - und die Annahme ist ja legitim -, dann ist es auch legitim zu sagen, dass Unterdrückung von Frauen viel mit Männern zu tun habe.

Das eine ist keine Diskriminierung gegen Muslime, und das andere ist keine Diskriminierung von Männern. Beides sollte man(n) aushalten können.

Antje Schrupp schrieb in den letzten Tagen ein Plädoyer, dessen Stärke darin besteht, dass es - anders als die Bericht- und Meinungserstattung insgesamt - zeitlos ist und nicht mit jeder neuen Kölner Nachrichtenlage oder jeder neuen Kenntlichmachung des Verdächtigenkreises umgeschrieben werden muss:

Machen wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit klar, dass Frauen sich anziehen und bewegen können, wie sie wollen, und niemand deshalb zu Übergriffen (oder dummen Kommentaren) irgendeiner Art berechtigt ist. Gewöhnen wir es uns an, bei anzüglichen Witzen, sexistischen Sprüchen und übergriffigem Auftreten immer und sofort zu intervenieren: Und zwar nicht nur wir Frauen, sondern auch die Männer, die ihresgleichen dabei konsequent in die Schranken weisen müssen. Ganz egal, welche Herkunft, Religion oder kultureller Hintergrund dabei im Spiel sind – oder wie viel Alkohol.

Mir sträuben sich sanft die Haare, wenn Jacques Schuster, Chefkommentator der "Welt", eine Wende in der Flüchtlingspolitik als eine Art Lehrbeispiel für wehrhafte Demokratie bemüht. Dabei schlägt sich sein Fallbeispiel doch gleich selbst: Vor anderthalb Monaten zitierte Jacques Schuster den Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mit der Bemerkung,

Viele der Flüchtlinge fliehen vor dem Terror des Islamischen Staates und wollen in Frieden und Freiheit leben, gleichzeitig aber entstammen sie Kulturen, in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil sind. Denken Sie nicht nur an die Juden, denken Sie an die Gleichberechtigung von Frau und Mann oder den Umgang mit Homosexuellen.

Für diese Aussagen habe Josef Schuster einen Spießrutenlauf erlebt, so der Welt-Kommentator heute. Wie ein ausgehungertes Wolfsrudel habe sich fast die gesamte deutsche Öffentlichkeit auf Josef Schuster gestürzt.

Also, erstens ist das Stuss. Das war nicht mal die Hälfte der deutschen Öffentlichkeit. Zur deutschen Öffentlichkeit gehören ferner neben denen, die das zur Kenntnis nahmen und nichts dazu sagten, auch noch jede Menge Leute, die weder das Interview vor sechs Wochen noch die Reaktionen darauf überhaupt kannten - ich zum Beispiel habe heute nachmittag zum erstenmal davon gelesen, und dabei bin ich politisch sehr interessiert.

Zweitens aber: wie soll eine Öffentlichkeit, die auf Josef Schusters Bedenken überwiegend wie ein Wolfsrudel reagiert haben soll, nun zur demokratischen Besinnung gekommen sein? Funktionierende Demokratie setzt ein gewisses Reflektionsvermögen voraus, und die Vorstellung, dass die Kölner Silvesterereignisse einer solchen Fähigkeit Vorschub geleistet haben sollen, ist albern.

Die Kölner Silvesterereignisse verändern nicht viel - jedenfalls nicht zum Besseren. Wenn sich etwas ändern soll, ist Schrupps Appell wesentlich zielführender.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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