Ist Europa erloschen?

Kommentar Kacem El Ghazzali kam 2011 als politischer Flüchtling nach Europa. Die Ideale der Aufklärung, die er dort suchte, sieht er zunehmend in Gefahr

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Als die Werte der Aufklärung noch hochgehalten wurde - 14. Juli 1789
Als die Werte der Aufklärung noch hochgehalten wurde - 14. Juli 1789

Foto: Hulton Archive/Getty Images

An meinem fünfzehnten Geburtstag war es, im Sommer 2005 in Nord-Marokko, als ich zufällig an eine Reihe kurzer Online-Artikel über die europäische Aufklärung geriet.

Was ich las, war ebenso fesselnd wie aufwühlend und markierte den Beginn einer radikalen Veränderung in meinem Leben.

Sehr eindrücklich war die Erkenntnis, dass Europa, heute ein entwickelter und freier Kontinent, bis zum 18. Jahrhundert auf denselben religiösen Pfeilern ruhte wie heute viele muslimische Länder, durchwirkt von religiösem Dogma, Sektierertum und Angriffen auf die Redefreiheit. Es war ermutigend, zu lesen, wie die Philosophen Europas an der vordersten Front des Kampfes für die Freiheit so viel erreicht hatten, obwohl sie, Verfechter von individueller Unabhängigkeit, intellektueller Offenheit und von Austilgung religiöser Unterdrückung, doch so wenige waren. Einsame Stimmen, ohne Unterstützung im Volk, unter Verfolgung leidend, im Exil lebend; verwandt vielen Säkularisten und Intellektuellen in der heutigen muslimischen Welt.

Diese philosophische und politische Bewegung erhob sich über die Hürden von Geographie und Sprache, denn ihre Lehrstunden hatten einen universellen Widerhall. Sie sprachen von der menschlichen Rasse, nicht der europäischen und hießen den Fortschritt willkommen, den der Geist des Menschen brachte, nicht der Geist Europas.

Dieses Europa mit seiner Literatur, seiner Philosophie, seinem revolutionären Erbe war ein Quell der Inspiration. Ich war ein junger Marokkaner mit einer komplizierten Geschichte der religiösen Erziehung, mit vierzehn Jahren genötigt, die Schule zu verlassen und eine salafistische Madrasa (Schule für islamische Wissenschaften) zu besuchen, aber die Werke der Intellektuellen der Aufklärung zu lesen wirkte als Katalysator meiner eigenen, persönlichen Aufklärung.

Die Ansichten Spinozas über Religion als organisiertes Dogma, der Mut Voltaires angesichts religiöser Verfolgung oder Diderots Glaube an die Bedeutung von Wissenschaft und Vernunft treffen speziell auf die gegenwärtigen Herausforderungen in der islamischen Welt zu.

Um eine solche Faszination innerhalb der islamischen Welt von der europäischen Aufklärung zu verstehen, sollten wir uns der historischen Kontexte beider Kulturen bewusst sein.

Heute kennt man in Frankreich, Deutschland und England keine religiöse Verfolgung mehr. Niemand, der seine Meinung äußert, seine Religion ausübt, wie er es für richtig hält oder der gar nicht erst einer Religion anhängt, muss ein Nachspiel befürchten.

Derweil unterscheidet sich die Lage in der muslimischen Welt radikal von der im heutigen Europa, gleicht aber derjenigen des Europas zu den Zeiten von Spinoza und Denis Diderot. Die Probleme, mit denen diese Denker rangen, stellen immer noch ernsthafte Herausforderungen für viele Menschen in der Welt dar, überall zwischen Tanger und Jakarta.

Das Europa der Aufklärung existiert nicht mehr

Persönlich begegnete ich Europa im Frühjahr 2011, als ich, politischer Flüchtling, in Genf ankam. Die Entdeckung, dass das Europa der Aufklärung nicht mehr existierte, das Europa der Bücher, die mich bewegt hatten, für die Freiheit zu kämpfen und zu schreiben, war ein großer Schock. Zwar besteht es geographisch fort, wir können es sehen, können es besuchen. Aber wir können nicht mehr bedingungslos in seine Ideen eintauchen oder die Werte und humanistischen Prinzipien erleben, auf denen es gegründet wurde.

Es ist jetzt ein anderes Europa. Eines, in dem Künstler und Autoren Selbstzensur üben müssen aus Angst vor Morddrohungen; wo Karikaturen über Jesus Redefreiheit sind, Mohamed zu zeichnen aber „Hassrede“. Ein Europa, in dem viele Linke und Feministen, konfrontiert mit dem Leid der Apostaten, der Frauen und Minderheiten in der islamischen Welt, den Kopf in den Sand stecken. Gleichzeitig nutzen rechte Populisten die Gunst der Stunde und stellen sich als die neue Stimme der Freiheit und der Werte der Aufklärung dar, das Vakuum füllend, das die Linken hinterlassen haben, während ihre Aktivitäten eine weitgehende Zurückweisung jener Prinzipien zeigen.

Zum eigenen Bedauern war ich nicht überrascht, in einer französischen Dokumentation Unterstützer des Front National zu sehen, die sich offenbar nach einer Rückkehr zur Zeit vor der Aufklärung sehnen, mit einem Mann mittleren Alters, der vor laufender Kamera sagt, er wolle Ludwig XIV zurück.

Gleichermaßen wenig überraschend ist es, wie radikale Islamisten in Europa nach der Scharia rufen und die säkular-pluralistischen Gesellschaften verteufeln (in denen sie selbst frei leben können), unterstützt von vielen Linksliberalen, die Islamkritik mit Engstirnigkeit oder Hass auf Muslime verwechseln.

Tatsächlich ist schwer zu verstehen, wie die schwedische Regierungsdelegation – „die erste feministische Regierung“ – in Teheran sich der islamistischen Kleiderordnung unterwerfen konnte; dem würden sie sich sicherlich verweigern, wenn irgendein weißer Mann es ihnen aufzuzwingen gedachte. Wie mögen sie wohl über Dorsa Derakhshani reden, die iranische Schach-Großmeisterin, die vom Wettkampf im nationalen Schach-Team ausgeschlossen wurde? Ihr Verbrechen: Den Hidschāb nicht zu tragen.

Darüber hinaus kann ich nicht begreifen, wie Menschen, die behaupten, liberal zu sein und Verteidiger der Unterdrückten, mich zum Schweigen bringen wollen, sobald ich ihre ideologische Weltsicht infrage stelle. Kürzlich, als die Schweizer Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli einen meiner Artikel über Islamophobie und die regressive Linke auf ihrer Facebook-Seite teilte, beschuldigte mich ein linker Kulturrelativist in seinem Kommentar als „islamophoben, sich selbst hassenden Araber und Eurozentristen“.

Gleichermaßen beschweren sich linke Genossen, dass ich zur sozialen Gerechtigkeit aufrufen sollte und zur Überwindung des Kapitalismus, statt zu verfechten, was sie „bourgeoise Freiheiten“ nennen, wie etwa Religionsfreiheit und die sexuelle Befreiung, während sie vergessen oder ignorieren, was Marx selbst hervorhob: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“

Es ist entmutigend, wie ich aus der Sicht vieler Europäer weder eine kritische Meinung über den Islam haben noch Immigranten für das verantwortlich machen sollte, was sie sagen oder tun. Andererseits habe ich anscheinend jedes Recht, den Westen zu kritisieren; sie würden mich lieben, wäre ich nur ein Opfer von „Rassismus, Diskriminierung, Xenophobie“. Die Karte des armen unterdrückten Immigranten zu spielen könnte sehr wahrscheinlich meinen sozialen Status heben und vielleicht sogar den Weg zu einer erfolgreichen politischen Karriere ebnen. Es zu unterlassen indes bedeutet, dass ich nur ein weiterer selbsthassender Ausländer bin.

Die altväterliche ideologische Brille, durch die die Linken seit Jahrzehnten die Welt sehen, ist fort. Sie wurde obsolet, als junge Menschen überall in der muslimischen Welt Zugang zum Internet bekamen, der ihnen erlaubte, dieselben Bücher zu lesen und über sie zu diskutieren wie irgendein Pariser oder Berliner Teenager.

Weder sind wir das neue Proletariat, das den Traum vom Klassenkampf wiederbeleben wird, noch werden wir die existenzielle Krise der Linken beheben, nachdem ihre traditionellen Auftraggeber, die Arbeiter, sie verlassen haben. Fremde, Flüchtlinge, Masseneinwanderung, Kulturrelativismus, die Verteufelung der westlichen Aufklärung, das sind die letzten Karten, die die Linke spielt, das letzte Schlachtfeld, das noch viele mit ideologischer Befriedigung erfüllt, ihnen einen Daseinsgrund liefert.

Dieser Verrat religiöser und sexueller Minderheiten in der muslimischen Welt durch einige jener, die sich als „links“ bezeichnen, ist entmutigend. Ihre Charakterisierung der ex-Muslime, Feministen und Liberalen in der islamischen Welt als „Eurozentristen“ oder „Verräter der eigenen Kultur“ ist herablassend, sie stinkt nach ideologischem Paternalismus.

Dennoch, es gibt auch viele vernünftige Stimmen innerhalb der Linken, die nicht einfach nur die augenblickliche Misere in der muslimischen Welt der westlichen Außenpolitik anlasten, sondern die Rolle gewalttätiger, theokratischer Regime wie im Iran und in Saudi-Arabien einräumen und anprangern, mitsamt ihrer Verantwortung für die Patenschaft des Terrorismus und für das Fördern extremistischer Ideologien.

Ist Europa also erloschen? Vielleicht hat das Europa, das mich einst inspirierte, niemals wirklich existiert und ich sehe den harschen Realitäten eines fortwährenden Kampfes hin zur Aufklärung ins Auge. Vielleicht habe ich in einem Augenblick der Schwäche meine Hoffnungen und Träume auf meine Lieblingsphilosophen und ihre Bücher projiziert.

Oder gab es dieses Europa doch und es besteht fort? Solange ich offen meine Meinung sagen kann, solange ich die Linke, die Rechte und die Islamisten kritisieren kann ohne Angst vor Verfolgung oder Gefängnis; solange ich diese Freiheit nicht für selbstverständlich nehme, wird Europa, dieses Europa, das mich begeistert, immer existieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kacem El Ghazzali

Kacem El Ghazzali. Er lebt seit 2011 als Flüchtling in der Schweiz. ist Ko-Direktor der Raif Badawi Foundation for Freedom.

Kacem El Ghazzali

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