Die Spreu trennt sich vom Weizen

Europäische Union Egal, ob dem Sozialen, der Umwelt oder dem Geld verpflichtet, die neue Scheidelinie heißt "Unionist oder Nationalist"

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Nationalstaaten bringen's nicht mehr. Das haben die Ereignisse der zurückliegenden Legislaturperiode von EU-Parlament und Europäischer Kommission bewiesen. Europäischer Rat und Europäischer Ministerrat haben in keinem der politischen Handlungsfelder auf Augenhöhe mit den an Europa gestellten Erfordernissen agiert.

Die Außenpolitik der EU ist ein Desaster weil nach wie vor jede Nation ihre eigene betreibt. Oft genug sind deren Interessen entgegengesetzt und die politischen Absichten neutralisieren sich gegenseitig oder sind in der Summe destruktiv. Afghanistan - 13 Jahre folgenloser Militäreinsatz. Libyen - ein Failed State. Ägypten - Vom Ex-General zu Islamisten und wieder retour, Syrien - Auf's falsche Pferd gesetzt? Ukraine - Gemeinsam mit dem netten Oligarchen von nebenan für Freiheit und Assoziierung, im Zweifel gegen den Willen von ein paar Betroffenen.

Die Austeritätspolitik: Sie hat den Süden arm und die Bundesrepublik noch reicher gemacht. Von einer EU welche aktiv die Angleichung der Lebensverhältnisse ihrer Bürger betreibt ist heute keine Rede mehr. Erst die Androhung der Europäischen Zentralbank zum Erhalt des Euros die eigenen Kompetenzen mehr als nur auszureizen, hat für Euroland die Eisen aus dem Feuer gerissen.

Bevölkerungspolitik: Einerseits lassen wir die Afrikaner im Mittelmeer ersaufen, weil sich die Nationalstaaten nicht über Aufnahmequoten einigen können, andererseits leidet Europa in Gänze unter zu geringen Geburtenraten.

Wirtschaftspolitik: Wer hat die Europäische Kommission beauftragt TTIP zu verhandeln? War dies ein Akt der Selbstermächtigung?

Das bestehende europäische Vertragswerk wird den komplexen Herausforderungen, denen sich Europa in einer globalen, multipolaren Welt stellen muss nicht mehr gerecht.

Der Europäische Rat ist damit überfordert. Dies liegt schlicht daran, dass seine Mitglieder lediglich ihren nationalen Parlamenten verantwortlich sind. Diese nationalen Parlamente nehmen per Definition nationale Interessen wahr. Der untaugliche Versuch der deutschen Executive, die Mitwirkungsrechte des Bundestages auszuhebeln, zeigt, man ist sich in de Executive dieses Dilemmas bewusst. Allerdings war die ins Auge gefasste Lösung antidemokratisch.

Eine dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Lösung ist, Problemfelder, die durch die Träger nationalstaatlicher Interessen nicht mehr konstruktive bearbeitet werden können, der höheren Instanz zuzuweisen.

Was wird schlimm daran daran sein, wenn Deutschland in einigen Jahren nur eine Provinz in Europa ist? - Genau, nichts!

Schlimm ist stattdessen, wie aufwändig es sich gestaltet, diesen Weg einzuschlagen. Ressentiments allerorten. Damit wir Bürger bereit sind, diesen Weg zu beschreiten, braucht es die Hoffnung, dass es dort wo er hinführt, besser ist als hier, wenn wir nichts tun. - Selbst die Bremer Stadtmusikanten sind erst losgezogen, als sie sich klar machten "Etwas besseres als den Tod finden wir überall!" - Dazu ist ein kultureller Prozess erforderlich. Das war zu den Zeiten als sich die Nationalstaaten herausbildeten nicht anders. Der Verweis auf die Gebrüder Grimm und ihre "Deutschen Märchen" ist nur ein kleines Beispiel. Es gibt Wissenschaftler, die machen darauf aufmerksam, dass etwa im Zuge der Bildung eines deutschen Nationalbewusstseins letztlich die gesamte Historie des geografischen Raumes auf dem sich der künftige Staat etablieren sollte so undefiniert wurde, dass es dem Bürgertum möglich wurde ein "schon immer bestehendes deutsches Urvolk" zu imaginieren. Bis darin hatte etwa ein Ostfriese mehr mit einem Westfriesen gemein, heute ist ihm "per Definition" der Oberbayer näher am Herzen.

Nun sind die Zeiten heute andere als vor 150 Jahren. Aber ohne kulturellen Prozess werden sich die als zunehmend lähmend herausstellenden Nationalstaatlichkeiten nicht europäisch überformen lassen. Verweise auf die Notwendigkeit der Schaffung gemeinsamer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken reichen nicht aus.

Im Kulturellen jedoch eröffnet sich ein fruchtbares Betätigungsfeld für die europäischen Intellektuellen und Kulturschaffenden, das den europäischen Bürgen neue Perspektiven aufzeigen kann. Europa braucht neue Visionen, Projekte und Erzählungen. Nur damit (und selbstverständlich nicht allein damit) wird den Bürgern der Union eine Identifikation mit ihr möglich.

Es macht einen Unterschied, ob die Hochkultur sich jedes Jahr ein, zwei neue Kulturhauptstädte aussucht, die die meisten Europäer gerade mal auf der Landkarte finden, oder Hunderte Millionen sich einmal im Jahr >>gemeinsam<< Schlager im Fernseher ansehen. Was ist eher geeignet Identität zu stiften?

Es ist soviel denkbar. Jährlich ein gemeinsamer arbeitsfreier Europafeiertag beispielsweise. An dem können Kulturschaffende - finanziell getragen von der EU - in den jeweiligen Partnergemeinden (bis auf Dorfebene) auftreten und uns einander näher bringen. Aller fünf Jahre dann ist dieser Tag EU-Wahltag.

Oder wie steht es mit mehr länderübergreifendem Fernsehen? Wieso haben wir arte und 3sat, aber keine Kooperation von MDR und rbb mit dem tschechischem und polnischen Fernsehen, oder wenigstens Beiträge dieser Fernsehsender in unserem Programm? Wenn ein deutscher Reporter aus Katowice oder Ostrava berichtet ist und und bleibt der Blickwinkel deutsch. Wird ein Beitrag des polnischen oder tschechischen Fernsehens im deutschen gezeigt, erweitert das den Horizont schon eher. Ein Verweis auf euronews beispielsweise hilft wegen geringer Zuschauerzahlen dort nicht weiter. Veränderung ist dort zu platzieren, wo sie wahrgenommen wird. Mutig wäre, wenn die euopäischen Rundfunk- und Fernsehanstalten sich verständigten, auf ihre Europastudios zu verzichten und stattdessen das Geld zur Synchronisation von Beiträgen örtlicher Sender ausgäben.

Womit sich eines der heikelsten Hindernisse beim europäischen Zusammenwachsen auftut. Die Sprache. Was lässt sich dagegen vorbringen Englisch in ganz Europa als zweite Amtssprache einzuführen und künftig nur noch entsprechend zweisprachiges Personal in den öffentlichen Dienst aufzunehmen? Selbst auf die Gefahr hin, dass Großbritannien, oder was von ihm demnächst noch übrig sein wird, aus der EU austritt. Das wäre dann eben eine Ironie der Geschichte.

Genug geträumt!

Die Wahlerfolge der Neonationalisten sind die Vorboten des sich immer deutlicher abzeichnenden Hauptschauplatzes künftiger Entwicklungen "Europa vs. Nationalstaat". Die Spatzen pfeifen es seit zwei Jahrzehnten von den Dächern. Nun zwingen die Neonationalisten dazu, diese Aufgabe nicht weiter auszusitzen. Die Beteiligten welche sich bisher vor allem links, mittig, grün, konservativ oder liberal verortet haben, sortieren sich gerade danach, wie sie es mit Europa halten werden.

Wenn Frau Merkel in diesem Zusammenhang von "Kriegserklärung" spricht, wenn die EU-Parlamentarier es wagen, eine eigene Meinung zu äußern, hat sie recht und gibt auch gleich ein Statement ab, wohin sie gehört. "Seht her! Ich bin eine Nationalistin.“ Auch als deutsche Kanzlerin ist sie nicht gezwungen, so zu handeln. Andere Staatschefs verhalten sich wegweisender.

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