Die Zeiten ändern sich - Rituale und Menschen nicht

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Ich bin einer von denen, die im Bad ein Radio stehen haben und sich während der täglichen Morgenhygiene mit den Neuigkeiten eines regionalen Infosenders berieseln lassen. Wenn die elektrische Zahnbürste im Kopf rattert, stelle ich halt das Radio lauter.

Heute hätte ich es wohl besser nicht getan - obwohl:

50 Jahre und fünf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer treibt der für die Region in der ich lebe zuständige Regionalsender doch diese alte Kamelle noch mal durchs Dorf. Jaja, es ist der Sender, dessen Intendant nach zwanzig, in seinen Worten "wilden Aufbaujahren" vorzeitig den Sessel räumt und, wenn alles gut geht, heim in den Freistaat der Laptops und Lederhosen kehrt. Jener Sender, dessen Unterhaltungschef vor kurzem wegen unzulässigem Finanzgebarens suspendiert wurde, jeder Sender der die Aufsicht über das Kinderfernsehen hat bei dem sich ein Produktionsleiter wegen Spielsucht über Jahre Millionen in die eigene Tasche steckte.

So diese Rundfunkanstalt sendet mir also heute morgen ein Interview mit dem Ex-Dissidenten und jetzigem Leiter des Stasi-Erbes zwischen die gerade geputzten Kauleisten.. Und das war letztendlich gut so, auch wenn es vermutlich anders gemeint war. Denn nun endlich habe ich es begriffen: Die Zelebrierung des Mauerbauvergehns folgt dem gleichen Muster wie der verordnete Antifaschismus in der DDR. Beide Muster beziehen/bezogen sich auf vergangenes Unrecht. Mal auf ein verbrecherisches Terrorregime, mal auf eine mehr oder weniger komode Diktatur. Beide stilisier(t)en die Toten . Mal etwa die Millionen in den KZ umgekommenen, mal die ca. 1.000 Toten an der innerdeutschen Grenze. Beide verehr(t)en die überlebenden Opfer z.B. mit herausgehobenen Funktionen, Renten und Entschädigungen, öffentlicher Anerkennung und so weiter.

Nachdem ich nun meinem Regionalsender diese Erkenntnis verdanke, werde ich drauf achten, ob in den nächsten Jahren im Sommer, immer so Anfang August nicht in den Innenstädten Tribünen errichtet werden, auf denen dann ein paar Tage später die verdienten Widerstandskämpfer mit einem Blumenstrauß in der Hand freundlich den lobhudelnden Massen entgegenwinken können. - Wird ihnen auffallen, wie sehr die Bilder sich gleichen?

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