Am Morgen rief die Enkelin an. Sie brauche meine Expertise. Ihr Deutschlehrer, ein Fan des digitalen Lernens, habe ihnen die Aufgabe gestellt, bis Montag ein Gedicht von einem gewissen Enzensberger zu interpretieren. „Ach nee“, dachte ich, „sicher dieses abgelutschte Ins Lesebuch der Oberstufe!“ Es stellte sich aber heraus, dass ich die Kreativität des Kollegen unterschätzt hatte. Der hatte nämlich ein Gedicht aus dem neuesten Band des Meisters („Wirrwarr“, 2020) ausgewählt:
WEITER NICHTS
Es ist nur die Witwe des Hausbesitzers,
die im Treppenhaus hustet,
Ein paar Ameisen tasten sich durch die Ritze.
Das ist nur der Regen,
der auf den Tonnen im Hof trommelt.
Das grüne Männchen leuchtet
und weist hin auf den Notausgang.
Horch, wie der Kühlschrank ächzt!
Er ist leer wie die ausgestorbenen Straßen.
Außer der Ausgangssperre
ist alles wie immer.
Die Aufgabe lautetet: „Hat das Gedicht eine Botschaft? Wenn ja: Welche?"
Das interessierte mich. Ich beschloss, die sechste Folge der ersten Staffel des dänischen Thrillers zunächst zu ignorieren , hustete, schaute in der Gästetoilette nach den Ameisen, hörte den Regen gegen das Velux-Fenster schlagen, ging zum Kühlschrank, machte es mir mit griechischem Joghurt im Lesesessel bequem und begann mit der hermeneutischen Arbeit …
Kommentare 23
für deutsch-lehrer eine willkommene ablenkung in fordernden zeiten! also:
c) aber: c)zwo
der autor zeigt, daß er trotz der außer-gewöhnlichen
gesellschafts-erregenden/-beherrschenden situation"ausgangs-sperre"
seine wahrnehmungen nicht in konformer weise auf diese fokussiert.
in dissidentischer pose besteht er auf der notiz
gewöhnlicher alltags-beiläufigkeiten.
das beharren des autors auf seinen perspektiven
verweist entweder auf eine (alters-bestimmte),
kontrollierte eremitische lebens-weise/ gelassenheit.
oder er möchte
(wegen der ostentativen mitteilung in einem publizierten gedicht-band):
seine anders-artigkeit unterstreichen,
das publikum auf andere weise verstörend.
ps.:
wo haben Sie den griech.joghurt ergattert?
ist das der berühmte melonen-joghurt mit ganzen früchten?
Danke für die schlüssige Kurzanalyse. Die Enkelin berichtete eben, ihr Lehrer sei der Meinung, H.M.E. habe mit der Aktualisierung seines Gedichts durch Corona einfach Glück gehabt - kein Prophet, einfach ein gelassener alter Mann, der weiß, dass alles, was schiefgehen kann, auch schiefgeht, so what! Den griechischen Joghurt gibt's hier bei Marktkauf, allerdings mit Brombeeren. Schmeckt auch.
Beste Grüße!
Umpf. Direkt in die Interpretation. Ist ja wie bei McDoof vor zwanzig Jahren.
I wo. Der alte Mann hat sich den Bevölkerungsstand zu Zeiten seiner Geburt angeschaut, mit heute verglichen, einen Blick auf SARS und MERS geworfen und war dann mit seinem Ergebnis genauso schnell wie der Deutschlehrer mit der stufenlos gestellten Aufgabe.
tja, das blöde am kommunizieren:
verständnis aufbringen,
heraus-heben eines gemeinten sinns(hermeneutik) versuchen,
das zuhandene interpretations-vermögen strapazieren...
ergebenst: Ihr Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky.
Spaßig, Pan Koslowski. Vielleicht gelingt es Ihnen hermeneutisch, die erste Zeile, "die Witwe des Hausbesitzers", die nun wohl nicht geerbt hat und daher einen Reizhusten bekam, auszulegen?
Der >>ächtzende<< Kühlschrank, müsste nur noch anfangen zu schwitzen! Das wäre dann ein Thrill.
Gut, dass es noch Schüler und Pauker gibt, längs >>ausgestorbener Straßen<<. Daran erkennt man: Es verhält sich diesbezüglich, für die Enkelin, wie fast immer.
Nur weiter
Christoph Leusch
++ Die Aufgabe lautetet: „Hat das Gedicht eine Botschaft? Wenn ja: Welche?" ++
Keine Ahnung, vielleicht hat das Gedicht ja nur eine "Ständige Vertretung" :-)
Das ist Blues, der Fusel, oder einfach nur Wirkung psychedelischer Drogen
Die clevere und lesekompetente Schülerin beantwortet die erste Frage des Lehrers mit "hat keine Botschaft"* und ist damit entlastet.
*Ob der Notausgang vielleicht etwas zu bedeuten hat, wäre aber eine zweite Überlegung wert.
Lyrisch taugt das Gedicht nicht viel. Und auch sonst mag ich vom Enzensberger lieber nichts hören und lesen.
@alle
Ich danke für Interpretationshilfen und Kritik. Enzensberger muss man nicht gut finden. Seine Mischung aus Apokalypse, Stoizismus und Melancholie ist nicht für jeden bekömmlich. Er kann aber auch heile Welt:
Optimistisches Liedchen
Hie und da kommt es vor,
dass einer um Hilfe schreit.
Schon springt ein anderer ins Wasser,
vollkommen kostenlos.
Mitten im dicksten Kapitalismus
kommt die schimmernde Feuerwehr
um die Ecke und löscht, oder im Hut
des Bettlers silbert es plötzlich.
Vormittags wimmelt es auf den Strassen
von Personen,
die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.
Wie im tiefsten Frieden.
Ein herrlicher Anblick.
Beste Grüße!
daß das "optimistische liedchen" der idylle zu ihrem recht verhilft:
wäre ein miß-verständnis.
- anblicke, die nur den "tiefsten frieden" vermerken,
sind hier herausgehoben.
als un-vollständige.
denn es gibt auch das lauern auf die ent-täuschung positiver erwartungen.
tja, über lyrische tauglichkeit(liegts am anspruch,an der durchführung?)
läßt sich gut streiten, wenn maß-stäbe urlaub machen.
sie sind ein toller wort-magier!
horst, Ihr kombinatorisches vermögen ist ein durchaus überschaubares.
"blues" und fusel("booze") sind mehr als verknüpft,
"drogen"(auweia, sogar psy!) zu addieren, ist klipp-schüler-haft.
Ende des vorigen Jahrtausends entwickelte H.M.E. einen "Fountain of Poetry", eine mindestens 150 x 90 cm große, schräg aufgestellte Glasplatte, über die beständig Wasser floss und auf welche [nicht nur] Gedichttexte projiziert werden sollten.
Ende 2009 wäre es in den Vereinigten Arabischen Emiraten beinahe zu einer Verwirklichung des Projektes gekommen. Als Experte wollte sich auch André Heller mit seinem Wiener "Artevent" der Sache annehmen. Leider ließ nach anfänglicher Begeisterung der Bruder des Emirs Mohammed Bin Rashid al Maktoum nie mehr etwas von sich hören [Enzensberger, Meine Lieblings-Flops (2011), S.152-156].
Was ich sagen wollte: Hätte es das Gedicht "Weiter nichts" seinerzeit schon gegeben und wäre es auf den "Fountain of Poetry" projiziert worden, hätte man ihm noch ein gerüttelt Maß mehr Hellseherisches attestieren können.
“wenn maß-stäbe urlaub machen.“
Wir messen die Kunst nicht.
na, S I E haben doch h.m.es lyrik gewogen und zu leicht befunden!
oder pflegen Sie nur eine persönl. phobie?
Ein gutes Gedicht ist ein gleichzeitig konzentriert tiefgründiges oder raffiniert vordergründig erscheinendes, aber ein genaues Bild in Worten und Struktur. Ich unterstelle HME einmal, daß er ein gutes Gedicht geschrieben hat. Dann sind die Corona-Assoziationen fehl am Platz. Es ist wohl eher so, daß HME eine imaginäre Reise nach einem imaginierten Moldawien oder Weißrussland gemacht hat und ein langsam zerfallendes, nur noch von einer alten Frau bewohntes Wohnhaus beschreibt. Die Tristesse der Zukunftslosigkeit ist gut getroffen. Man kann alles sehr wörtlich lesen, die Lesart beweist sich in der Bemerkung „Außer der Ausgangssperre ist alles wie immer.“
Das zweite Gedicht ist eindeutig ein schlechtes Gedicht, voller Fehler und Mißstimmigkeiten. Naja, heile Welt ist auch schwieriger zu poetisieren.
tja,
- wir wissen, in höheren belehrungs-/zucht-anstalten
zur auslese einer selbst-sicheren elite,
gibt es schulungen des distinktions-vermögens
und gelegentliche ab-prüfungen aktuellen geschmacks-vermögens.
beliebt dabei sind interpretationen von gedichten,
denen die entstehungs-umstände/-absichten
weitestgehend entzogen wurden,aber dadurch
ein kaum-begrenzter raum für geistige spekulationen geöffnet ist.
der schüler soll mit einem minimum an anhalts-punkten
ein maximum an entschlossenheit im urteilen produzieren.
für manche: ein graus, der mit der schulzeit endet.
nach der schule endet?
- was bringt leute zu groben äußerungen/zum urteilen über dinge,
zu denen sie offensichtlich keinen bezug haben.
was treibt sie dazu, persönliche vermutungen bekannt zu machen,
die eigen-willigkeit bezeugen, aber auch ein großes bogen-spannen
ins nirgendwo.
- keine katze hat den ehrgeiz, auf einer heißen herd-platte
dennoch einen eindrucksvollen tanz aufzuführen.
es scheint eine "sportliche einstellung"/eine obsession
unter menschen zu geben,
dort, wo ein wett-bewerb/quiz stattfindet, auch dabei zu sein.
oda?
Ich habe mich schon so oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, muessig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen? Ob nicht unser Handeln, selbst wenn es später kommt, nur der letzte Nachklang einer grossen Bewegung ist, die in untätigen Tagen in uns geschieht? Jedenfalls ist es sehr wichtig, mit Vertrauen muessig zu sein, mit Hingabe, womöglich mit Freude. Rainer Maria Rilke
ein fund, der trösten könnte.
“Lyrisch taugt das Gedicht nicht viel.“ erhebt keinen Anspruch auf Objektivität. Solcherart Einschätzungen von Kunst können das nie. Mit Maßstäben ist es bei der Kunst schon eine sehr schwierige Sache. Einerseits will der Kritiker gerne Recht haben, andererseits fehlt das genaue Maß. Fluch und Segen zugleich.
Und ja, eine Enzensberger-Phobie habe ich auch. Gegen die Person.
Wer dem Dichter begegnet, der vergesse die Kunst. Und umgekehrt.