Am Morgen rief die Enkelin an. Sie brauche meine Expertise. Ihr Deutschlehrer, ein Fan des digitalen Lernens, habe ihnen die Aufgabe gestellt, bis Montag ein Gedicht von einem gewissen Enzensberger zu interpretieren. „Ach nee“, dachte ich, „sicher dieses abgelutschte Ins Lesebuch der Oberstufe!“ Es stellte sich aber heraus, dass ich die Kreativität des Kollegen unterschätzt hatte. Der hatte nämlich ein Gedicht aus dem neuesten Band des Meisters („Wirrwarr“, 2020) ausgewählt:
WEITER NICHTS
Es ist nur die Witwe des Hausbesitzers,
die im Treppenhaus hustet,
Ein paar Ameisen tasten sich durch die Ritze.
Das ist nur der Regen,
der auf den Tonnen im Hof trommelt.
Das grüne Männchen leuchtet
und weist hin auf den Notausgang.
Horch, wie der Kühlschrank ächzt!
Er ist leer wie die ausgestorbenen Straßen.
Außer der Ausgangssperre
ist alles wie immer.
Die Aufgabe lautetet: „Hat das Gedicht eine Botschaft? Wenn ja: Welche?"
Das interessierte mich. Ich beschloss, die sechste Folge der ersten Staffel des dänischen Thrillers zunächst zu ignorieren , hustete, schaute in der Gästetoilette nach den Ameisen, hörte den Regen gegen das Velux-Fenster schlagen, ging zum Kühlschrank, machte es mir mit griechischem Joghurt im Lesesessel bequem und begann mit der hermeneutischen Arbeit …
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