Idylle mit Abendgift

B. feiert Geburtstag "Fällt draußen auch die Welt in Fetzen / wir wollen drinnen Fett ansetzen" (Fritz Eckenga)

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Spät am Abend, nachdem Familie, Freundinnen und Freunde gegangen waren, mit denen B. ihren 68. Geburtstag bei Gesprächen (Wetter, Zustand der Welt, Enkel, Todesfälle in der Nachbarschaft) sowie Wasser, Wein, Pizza und Salaten gefeiert hatte - während im Hintergrund das Fernsehen die letzte Rheinfahrt des Patriarchen übertrug - , las ich dem erschöpften Geburtstagskind vier Verse eines unbekanntes Dichters vor, die ihre Lieblingstochter auf ihrer Grußkarte zitiert hatte: "Hundert Jahre/und noch alle Haare/grenzt das nicht/ans Wunderbare!?"

B. aber winkte ab – sie habe nun keinen Bock mehr auf Reime mit Tiefsinn, sondern freue sich darauf, allein auf dem Sofa liegend, die neueste Folge von Inspektor Barnaby zu genießen.

Ich stimmte zu, machte den Abwasch, zog mich zurück ins Arbeitszimmer, blätterte in Rühmkorfs Sämtliche Gedichte, stieß dort auf seine Variation auf „Abendlied“ von Matthias Claudius (letzte Strophe):

Wollt endlich, sonder Sträuben,

still linkskant liegen bleiben,

wo euch kein Scherz mehr trifft.

Müde des oft Gesehnen,

gönnt euch ein reines Gähnen

und nehmt getrost vom Abendgift.

bewunderte einmal mehr die Kühnheit der Wörter, Bilder und Reime, trank noch ein Glas auf den Meister und schlief beschwingt und heiter ein.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski