kranker freund

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ein guter freund, seit nunmehr 30 jahren, hatte sich lange nicht gemeldet. zunächst dachte ich, er sei wieder mal auf reisen - wie so oft! in den letzten jahrzehnten hatte er so gut wie alle länder der erde bereist und so seinen geistigen horizont immens erweitert.

aber als dann immer mehr zeit verging und ich ihn weder am arbeitsplatz noch zu hause erreichen konnte, wuchs meine sorge, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.

schließlich erreichte ich ihn dann doch.

er erzählte mir, er sei an einer stoffwechselkrankheit erkrankt und schon seit 3 monaten nicht mehr zur arbeit gegangen. weiter ließ er sich nicht auf die schilderung seines leidens ein. das gespräch endete schnell und für mich unbefriedigend. warum mauerte er mir - einem seiner besten freunde - gegenüber?

was hieß hier überhaupt "stoffwechselkrankheit"?

für welche stoffwechselkrankheit auch immer - für keine wird man über 3 monate mit immer noch offenem ende arbeitsunfähig geschrieben!

ich schrieb meinem freund eine e-mail, in der ich meiner verwunderung darüber, dass er mir nicht die wahrheit über seinen wahren zustand offenbart hatte, ausdruck verlieh. vielmehr müsse es sich in seinem fall um eine deutlch schwerwiegendere krankheit handeln, etwa um eine infektion ( womöglich hiv? ), eine krebserkrankung oder aber - was ich für am wahrscheinlichsten hielt - um eine schwere depression. wenn er schon mir gegenüber eine gewisse scham habe, sich zu öffnen und stattdessen eine stoffwechselkrankheit erfinde ( eine fabel, die jeder durchschauen könne! ), dann solle er doch gegenüber der allgemeinen öffentlichkeit, zum beispiel gegenüber den kollegen, eine andere, plausiblere story erfinden.

einige tage später telefonierten wir dann wieder miteinander. dabei schilderte mein freund die schwierigkeiten seines lebens als mittlerer beamter der finanzbehörde, der bereits mit Mitte 30 das ende seiner karriere erreicht hatte. er hatte zwar ein sehr gutes abitur neben seiner arbeit nachgeholt, er hatte sehr viel in seine bildung investiert ( bücher, theaterbesuche, kulturveranstaltungen ) und insbesondere die ganze welt bereist, aber dennoch spüre er immer deutlicher, dass er nicht ernst genommen würde, weil er eben nur mittlerer beamter sei.

ausschlaggebend für seine derzeitige depression sei eine schon jahre zurück liegende einladung bei einem nachbarn gewesen. dort habe man ihn zunächst durchaus wohlwollend empfangend. als er dann jedoch gefragt worden sei, was er beruflich tue, habe man ihn schnell geschnitten und isoliert und er habe den eindruck gewonnen, dass allein aus der beantwortung dieser frage die gesellschaftliche akzeptanz eines menschen sich herleite. das betrübe ihn sosehr, dass er eigentlich nicht mehr leben wolle.

das fand ich sehr beschämend für unsere gesellschaft und stelle deshalb diese geschichte als diskussionsgrundlage zur verfügung.

mein freund ist übrigens seit über 30 jahren spd-genosse und hat auch in dieser partei immer wieder erleben müssen, dass er mit seinem gesellschaftlichen rang nichts werden würde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

karlsand

freier Autor, Flaneur

Autor, der sich langsam wiederfindet

karlsand

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