„An das revolutionäre Proletariat!“ titelte tags darauf die Freiheit, Organ der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD). Am Nachmittag des 8. Oktober 1919 war auf deren Vorsitzenden Hugo Haase am Reichstag, Ecke Dorotheenstraße, ein Revolveranschlag verübt worden. Und zwar „eine Stunde bevor er seine große Anklagerede (…) gegen die Gewaltakte der Noskegarden halten wollte“. Das Opfer sei am Ober- und Unterschenkel leicht verwundet, man dürfe hoffen, dass Haase – wenn keine Komplikationen hinzuträten – in einiger Zeit wiederhergestellt sein werde. „Es waren furchtbare Minuten, die wir durchlebten, bis wir die Gewissheit erhielten, dass das Leben unseres Freundes nicht gefährdet sei.“ Der Anschlag wäre misslungen, der Täter verhaftet, hieß es weiter. Ebendieser sei mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit „geistig minderwertig (…) und wir, die wir uns stets gegen die politische Ausschlachtung von Irrsinnstaten gewandt haben, sind die Letzten, die diesen Menschen irgendeiner Partei an die Rockschöße hängen wollen“. Und dennoch: „Die Bluttaten gegen Arbeiterführer häufen sich.“ Der Anschlag auf Haase habe nur geschehen können in einer politischen Atmosphäre, in der Revolutionäre als vogelfrei gelten. „Mörderzentralen der Militaristen haben Luxemburg, Liebknecht, Eisner, Dorrenbach, Landauer, Jogiches und viele andere (…) umbringen lassen.“
Das Attentat auf den seinerzeit beliebtesten Arbeiterführer der noch jungen Weimarer Republik ist heute in Vergessenheit geraten, wie überhaupt Hugo Haase im kollektiven Gedächtnis nicht mehr präsent ist. Den einen galt er als Revolutionär, anderen als Parteispalter und Dritten als inkonsequenter Sozialpazifist. Zur Erinnerung: Als Mitvorsitzender der SPD und ihrer Fraktion im Reichstag hatte Haase am 4. August 1914 – entgegen seiner politischen Überzeugung – die historische Erklärung abgegeben: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich …“
Der SPD-Politiker war es aber auch, der schon bald den Widerstand organisierte und – nachdem das Massensterben vor Verdun begonnen hatte – im Reichstag ein Plädoyer gegen den „entsetzlichen, menschenmordenden Krieg“ hielt: Deutschland habe die Verpflichtung, „den anderen die Hand zum Frieden entgegenzustrecken“. Noch während seiner Rede wurde Haase aus dem Plenum heraus vom Parteigenossen Philipp Scheidemann als „Drecksseele“ beschimpft. Friedrich Ebert – damals immerhin mit Haase zusammen SPD-Vorsitzender – rief: „schamloser Kerl, frecher Halunke!“, begleitet vom Beifall und den Bravorufen der bürgerlichen Fraktionen. Wilhelm Keil vom rechten SPD-Flügel schrie: „Verräter! Verräter!“ Am weitesten jedoch ging Julius Kopsch, Abgeordneter der Freiheitlichen Volkspartei: „Wieder mal ein Jude, ein Jude, was wollen denn die Juden hier? Bravo Keil!“
An jenem 24. März 1916 setzte die Reichstagsfraktion der SPD ihren Parteivorsitzenden Hugo Haase und 17 andere Abgeordnete vor die Tür. Die Ausgeschlossenen, die gegen den Notetat der Regierung gestimmt hatten, gründeten noch am selben Tag eine eigene Fraktion, die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft, die zum geistigen Zentrum der Antikriegsbewegung in Deutschland wurde und zur Keimzelle der im Jahr darauf gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Sie war „die Partei der politisch Heimatvertriebenen“, so der Historiker Jörn Schütrumpf. „Es ist ja dort keiner freiwillig aus der SPD ausgetreten, sondern die Leute sind einzeln, teilweise in Gruppen, ausgeschlossen worden.“ Bei ihrer Gründung sei die USPD stark heterogen gewesen, ein Sammelsurium, von Eduard Bernstein auf der einen Seite über Karl Kautsky bis hin zu Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Schütrumpf betont, dass Hugo Haase einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass diese Partei entstanden sei. „Und er ist derjenige, der sich immer darum bemüht, diese verschiedenen Flügel zusammenzuhalten.“
Welche Überwindung es ihn gekostet haben mag, in den Tagen der Novemberrevolution ausgerechnet mit Ebert und Scheidemann in eine Regierung, den Rat der Volksbeauftragten, einzutreten, lässt sich nur ahnen. Am Nachmittag des 10. November 1918 war Haase im Zirkus Busch von den Berliner Arbeiter- und Soldatenräten (nominell gleichberechtigt mit Friedrich Ebert) zum Vorsitzenden dieses Exekutivorgans gewählt worden. An seinen Sohn Ernst schrieb er später, er hätte mit seinen Freunden allein regieren wollen, wäre es nicht der feste und einmütige Wille der Soldaten gewesen, „dass wir mit Ebert die Gewalt teilen sollten, und wenn nicht ohne Ebert ein erheblicher Teil der bürgerlichen Fachmänner Sabotage treiben würde“.
Entscheidungen, die in Haases kurzer Amtszeit fallen, etwa die Einführung der Presse- und Versammlungsfreiheit, die Aufhebung der Gesindeordnung, der Acht-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich und die Gewaltenteilung, prägen das Land bis heute. Und nicht zuletzt das Frauenwahlrecht! Der Streit über den Wahltermin zur Nationalversammlung aber sollte die Arbeit der Regierung beinahe lähmen. Ebert und Scheidemann bestanden darauf, dass alle tiefgreifenden Veränderungen erst nach dem Urnengang stattzufinden hätten. Die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 bescherte der Mehrheits-SPD mit 37,9 Prozent indes keine Mehrheit, sodass grundsätzliche Reformen in Armee, Wirtschaft und Staatsapparat ausblieben.
Über die Arbeit des Rates der Volksbeauftragten erzählt der Historiker Arthur Rosenberg eine bizarre Episode: Zur Sitzung am 9. Dezember 1918 war der letzte kaiserliche Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Wilhelm Solf, geladen. Der hatte sein Amt auch während der Novemberrevolution behalten, obwohl er diese ablehnte. Als er an jenem Tag vor der Regierung Bericht erstatten sollte, weigerte er sich, einem der beiden Vorsitzenden des Rates – Hugo Haase –, die Hand zu reichen. Ein Affront, den er mit Haases angeblicher Zusammenarbeit mit den russischen Bolschewiki begründete. Der Beleidigte aber – der in der Revolutionsregierung sogar für die Außenpolitik zuständig war – tat nichts, erklärte lediglich, er werde auf diesen Affront öffentlich antworten. Rosenberg dazu: „Diese ganze Szene konnte sich vier Wochen nach dem Sieg der Revolution abspielen. Offenbar hat keiner der Volksbeauftragten daran gedacht, Herrn Solf an Ort und Stelle verhaften zu lassen. Man male sich die Situation aus, wenn ein bürgerlicher Fachbeamter 1918 in dieser Form Trotzki gegenübergetreten wäre oder wenn 1793 in Frankreich ein aristokratischer Fachmann sich derart gegenüber Robespierre benommen hätte! In beiden Fällen wäre ein solcher Beamter sofort vom Revolutionsgericht abgeurteilt worden.“
Aus Angst vor „russischen Verhältnissen“ sucht Ebert das Bündnis mit den alten Eliten. Mit Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung, telefoniert er seit dem 10. November beinahe jeden Abend. Ihre unheilige Allianz wird maßgeblich zum Exzess der Gewalt beitragen und Weihnachten 1918 die USPD zum Rückzug aus der Regierung zwingen. Freikorps und reguläre Einheiten berufen sich auf den Schießbefehl des SPD-Ministers Gustav Noske. Etwa 5.000 Menschen werden ermordet, unter ihnen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Während im Jahr 1919 die neu gegründete KPD praktisch im Untergrund agieren muss, erlebt die Mehrheits-SPD eine Austrittswelle und die USPD einen ungekannten Aufschwung. Vielerorts wird sie zur eigentlichen Mehrheitspartei. Bei den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 gewinnt die USPD 17,6 Prozent der Stimmen und schafft es in jenem Jahr auf fast 900.000 Mitglieder. Doch wachsen mit der Größe auch Spannungen und Fliehkräfte. Der größere linke Flügel beschließt ein Zusammengehen mit der Kommunistischen Partei. Hugo Haase hat die Spaltung und den Zerfall seiner USPD nicht mehr erlebt. Die Schussverletzungen führten zu einer Blutvergiftung. Der Vorsitzende der USPD verstirbt am 7. November 1919.
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