Zeitgeschichte Die Selbstverbrennung eines Pfarrers und die Reaktion evangelischer Bischöfe belasten in der DDR das Klima zwischen Staat und Kirche. Von Konterrevolution ist die Rede
Im historischen Gedächtnis der Ostdeutschen spielt der 11. September 1976 kaum eine Rolle. Dabei haben bei der Erinnerung an jenen Tag gleich zwei Ereignisse Aufmerksamkeit verdient. Es gab eine Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen, kurz KKL, die einen „Brief an die Gemeinden“ zur republikweiten Kanzelabkündigung verabschiedete. Was der enthielt, wurde bald darauf in einem Schreiben von SED-Chef Erich Honecker an die Kreissekretäre der Partei als einer der „größten konterrevolutionären Akte gegen die DDR“ eingestuft.
Am Abend des 11. Septembers 1976 konnte schließlich der Liedermacher Wolf Biermann sein Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg zum Besten gaben. Er tat das – Augenbrauen hoch, Trä
rauen hoch, Tränensäcke runter – in der Nikolaikirche der Stadt Prenzlau in Mecklenburg und schluchzte: „Mach, dass mein herzenslieber Wolf nicht endet / wie schon sein Vater hinter Stacheldraht. / Mach, dass sein wirrer Sinn sich wendet / zu der Partei, die ihn verstoßen hat. (…)“ Biermann hatte es irgendwie geschafft, nach elf Jahren des Verbots wieder einen Auftritt in der DDR zu haben – seinen letzten bis zum Herbst 89.Hans Seigewasser, Staatssekretär für Kirchenfragen, verband beide Ereignisse, als er vor seinen Mitarbeitern klagte: Erst habe es den „Brief an die Gemeinden“ gegeben, dann Biermanns Gesänge unter dem Dach der Kirche und einen Bericht dazu im Spiegel. Womit müsse man noch rechnen? Die Kirche öffne der Konterrevolution ihre Pforten und glaube offenbar, die Zeit für eine fünfte Kolonne in der DDR sei gekommen. Es hätte bloß noch gefehlt, den „Brief an die Gemeinden“ beim Biermann-Konzert zu verlesen.Kein direkter Einfluss des StaatesDabei verstand sich die „Kirche im Sozialismus“ nie als Opposition. Von Manfred Stolpe, 1976 Generalsekretär des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, stammt das Wort, man wolle weder „Transmissionsriemen der Partei noch ein Trojanisches Pferd der Konterrevolution“ sein. Dennoch war die Kirche die einzige gesellschaftlich relevante Institution, die sich dem Allmachtsanspruch der SED entzog. Synoden, Kirchentage oder Konzerte in kirchlichen Räumen galten als öffentliche Veranstaltungen, auf die der Staat keinen direkten Einfluss nehmen konnte.So alarmierte Prenzlau die Partei, denn Biermann war Fleisch von ihrem Fleisch, und der schlimmste Feind war schon immer der Feind in den eigenen Reihen. Was tun? Den Liedermacher zu inhaftieren, stand nie zur Debatte. Dann hätte man ihn auch vor Gericht stellen müssen und den im Land akkreditierten Westjournalisten auf lange Zeit ein Thema verschafft: Freiheit für Biermann! Dennoch bestand Handlungsbedarf, schon 1974 hatten die DDR-Behörden dem Sänger ein Visum ohne Rückkehrmöglichkeit angeboten. Der lehnt ab. Dann aber wird es Biermann auffallend unbürokratisch erlaubt, zu einem Konzert nach Köln zu reisen, wohin ihn die IG Metall für den 13. November 1976 eingeladen hat.Ungeachtet dessen gilt in diesem Spätherbst das Hauptaugenmerk des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) dem Kirchenbrief an die Gemeinden und einem möglichen „feindlichen Untergrund“. Eine relativ kleine Gruppe evangelischer Geistlicher und Kirchenfunktionäre hält die Schattenmacht auf Trab. In einer MfS-internen Information vom 13. September 1976 heißt es: „Mit dem nunmehr beschlossenen Brief haben sich die negativen Kräfte in der Konferenz durchgesetzt.“ Er richte sich mit Verleumdungen und Entstellungen gegen die sozialistische Ordnung im Allgemeinen und das sozialistische Bildungswesen im Besonderen. In einer als „dringend“ eingestuften MfS-Nachricht an alle Bezirksverwaltungen kündigt Rudi Mittig, stellvertretender Minister für Staatssicherheit, am 14. September 1976 die „Einleitung von offensiven politisch-operativen Maßnahmen“ an. Der Kirchenbrief sei geeignet, die „Bemühungen zu normalen Beziehungen zwischen Staat und Kirche weiter zu stören“, biete er doch reaktionären Kräften die Möglichkeit zu Angriffen auf die DDR. Es fällt der Name Oskar Brüsewitz. Der Pfarrer hat sich am 18. August 1976 vor der Zeitzer Michaeliskirche mit Benzin übergossen und angezündet. Sein Freitod wird von den Westmedien als Protest gegen die SED-Bildungspolitik gedeutet, während Biermann bei seinem Konzert in Prenzlau von einer „Republikflucht in den Tod“ spricht.„Zeugnis von Zynismus und Arroganz der Macht“Die Zeitung Neues Deutschland wiederum, Zentralorgan der SED, berichtet von einem Pfarrer, der nicht immer Herr seiner Sinne gewesen sei. „Gelegentlich spannte er sein Auto vor Pflug und Egge oder auch ein Pferd vor seinen Trabant, in dem er des Öfteren mit Sturzhelm zu fahren pflegte. Als das Tier verendete, suchte er vergebens, zur Verbrennung seines toten Gauls das Krematorium in Anspruch zu nehmen. Dafür trat er bei einer Beerdigung bewusst auf die Schleifen der niedergelegten Kränze, weil sie der letzte Gruß für den Toten von den Kollegen einer Genossenschaft waren.“ Andersdenkende habe Brüsewitz als „Gesinnungslumpen“ beschimpft. Und „ob er unter seinem General, zu dem er heimkehren wollte, Gott oder den BND verstand, wollen wir hier nicht näher erörtern“. Damit nicht genug, „soll er bei einem Fußballspiel mit Kindern weniger angehabt haben als eine Unterhose“.Dieser nicht gezeichnete Kommentar sorgt in der DDR für Empörung. Der geifernde Tonfall des Autors sei die Sprache des 17. Juni 1953 gewesen, ein „Zeugnis von Zynismus und Arroganz der Macht“, meint im Rückblick Horst Dohle, damals Büroleiter des Staatssekretärs für Kirchenfragen. Bis weit in die SED hinein habe dieser Text, eine eher hilflose Reaktion auf Berichte im Westfernsehen, für Ärger und Entrüstung gesorgt. Adressat sei weniger die Bevölkerung als die Kirche gewesen. Deren Bischöfe hatten die Selbstverbrennung des Pfarrers aus Rippicha zwar nicht gebilligt, aber sich auch nicht ausdrücklich davon distanziert. In ihren Stellungnahmen war stets von „Bruder Brüsewitz“ die Rede. Den Bischöfen sollte offenbar bedeutet werden, auch der Staat könne sich zu einem Konfrontationskurs wie in den frühen 50er Jahren entschließen. Die Kirchenleitung hatte sich – nachdem ihre Gegendarstellung zum Leben des Oskar Brüsewitz nicht veröffentlicht wurde – für den Weg via Kanzelabkündigung entschieden und proklamiert: „Wir haben nicht seine Richter zu sein, sondern den Weg, den er gewählt hat, in Gottes Urteil stehen zu lassen.“ Im Klartext hieß das, die Kirche wird sich nicht offiziell von Brüsewitz abwenden.Das Kirchenpapier trug die Handschrift des Magdeburger Bischofs Werner Krusche, zu dessen Landeskirche Brüsewitz als Pfarrer gehörte. „Die Tat von Oskar Brüsewitz und die Wirkung, die sie auslöste, zeigen erneut die Spannungen, die durch unsere Gesellschaft gehen, und die Zerreißproben, in die viele gestellt sind. Es wird sichtbar, dass wir dem Leben in unserer Gesellschaft und unserer Kirche nicht dienen, wenn wir Probleme und Widersprüche verdrängen.“ Durchaus ein Affront, solche Töne war das Politbüro der SED nicht mehr gewohnt.Als Wolf Biermann zwei Monate später wegen seiner Äußerungen beim Konzert in Köln ausgebürgert wird, können sich die Bischöfe zu keiner ähnlichen Erklärung durchringen. Immerhin übt die Kirche Solidarität mit den Künstlern, die gegen den Umgang mit Biermann protestieren. Kirchenbundchef Albrecht Schönherr schreibt in jenen Tagen seinem Sekretär Stolpe: „Für Biermann wird laut genug geredet. Für die Schriftsteller wollen wir einiges tun: Sie lesen. Sie zitieren. Sie einladen.“ Und so geschieht es. Stefan Heym, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner und andere finden fortan in den Räumen der Kirche ein aufmerksames Publikum. Nach und nach entsteht dort eine qualifizierte Gegenöffentlichkeit, in der sich Menschen jeden Alters und aller Berufe, Christen und Nichtchristen über die inneren Konflikte der DDR austauschen können. Ein Anstoß dazu ist Biermanns Konzert in Prenzlau am 11. September 1976 gewesen, doch hat der bischöfliche Umgang mit Pfarrer Brüsewitz ebenso Anteil daran.
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